Dr. Siegfried Broß*: „Krankenfürsorge: Gleiches Recht für Alle?“ – Verfassungsrechtliche Sicht. Vortrag auf dem 12. Straubinger Ethiktag: „Zwei-Klassen-Medizin“. Fakt oder Fiktion?, 12. November 2018.
I. Einführung
Aus verfassungsrechtlicher Sicht nähert man sich der Fragestellung zur besseren Verständlichkeit unter übergeordneten Gesichtspunkten, die keinen unmittelbaren verfassungsrechtlichen Bezug haben.
1. So ist ein ,Kulturwandel‘ im Gesundheitswesen nicht zu verkennen. Die Vertiefung der Europäischen Integration hat einen Privatisierungsdruck für die Mitgliedstaaten in den Bereichen der öffentlichen Infrastruktur erzeugt.[1] Es muss nachdenklich stimmen, dass der schrankenlose, geradezu ungezügelte Wettbewerb zunächst zu einem zentralen ,Staatsziel‘ der Integration erhöht wurde. Ohne dass dies thematisiert oder in irgendeiner Weise deutlich wahrnehmbar gekennzeichnet worden wäre, wurde auf diese schleichende Weise eine neue Werteordnung geschaffen. Es ist nicht zu übersehen, dass die Menschen hierdurch als Mensch und selbst bestimmtes Individuum in einem nicht geringen Maße ausgeblendet werden.
Von den maßgeblichen Akteuren wurde unterdrückt, dass die öffentliche Infrastruktur im Bereich der Daseinsvorsorge eine unmittelbare Ausprägung des Sozialstaatsprinzips ist.[2] In der Bundesrepublik Deutschland wird die Stellung der Menschen in diesem Zusammenhang jedenfalls kraft Verfassungsrechts verstärkt. Das Sozialstaatsprinzip verbindet sich hier gemäß Art. 1 des Grundgesetzes mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde. Sie wirksam zu achten und zu schützen, ist eine originäre Staatsaufgabe.
Diese Akzessorietät zwischen Sozialstaatsprinzip und Unantastbarkeit der Menschenwürde schließt von vornherein die Privatisierung solcher staatlicher Infrastrukturbereiche aus, die für ein menschenwürdiges Dasein unabdingbar sind und die von den einzelnen Menschen nicht selbst geschaffen und sichergestellt werden können. Dazu gehören z. B. die Krankenfürsorge, aber auch die Leistungen von Bahn und Post, Energie, Straßen und Bildung. Wettbewerb als ein wesentliches Strukturmerkmal der privaten Wirtschaftstätigkeit ist definitionsgemäß rücksichtslos und nimmt keinerlei Bedacht auf das einzelne Individuum und die Allgemeinheit, wie die Vernachlässigung von Umweltschutz, Standards in der Arbeitswelt, aber auch kriminelle Absprachen und Vorgehensweisen wie etwa in Kartellverbindungen wie auch Vermeidungs- und Umgehungsstrategien in der Industrieproduktion belegen.
Aus diesem Grunde ist die Privatisierung der genannten staatlichen Infrastrukturbereiche kraft Verfassung ausgeschlossen, weil die Schranken von Art. 1 Abs. 1 (Schutz der Menschenwürde) und Art. 20 Abs. 1 (Sozialstaatsprinzip) des Grundgesetzes nicht überwunden werden können. Hierfür hat das Grundgesetz eine Sperre errichtet, die selbst mit einer verfassungsändernden Mehrheit nicht beseitigt werden kann.[3] Gleichwohl ist auch mir nicht fremd und meiner Beobachtung nicht entgangen, dass hiergegen häufig verstoßen wird. Das hat mich zu einem kritischen Beitrag mit dem Titel „Wenn rechtsstaatlich-demokratische Ordnungsrahmen stören oder hinderlich sind – Überlegungen zur Entstehung von Parallelwelten –“ bewogen.[4]
2. Weitere Gesichtspunkte treten im Rahmen dieses Entwicklungsprozesses hinzu. Zunächst muss man feststellen, dass eine Funktionselite herangewachsen ist, die von allem nur den Preis und den eigenen Vorteil und von nichts den Wert kennt oder versteht. Insoweit mögen der Hinweis auf die Banken-, Finanzmarktkrise und weltweit wirksame Manipulationen und Verstöße gegen elementare Menschenrechte durch Wirtschaftsunternehmen wie auch die bedrückenden Erfahrungen im eigenen Land durch rücksichts- und verantwortungsloses Handeln von ,Wirtschaftseliten‘ genügen.
Es kann schlechterdings nicht vertreten werden, dass die Krankenfürsorge vor dem aufgezeigten Hintergrund den nicht beherrschbaren Regeln von Markt und Wettbewerb ausgeliefert und z. B. das Krankenhaus wie ein kommerzieller Wirtschaftsbetrieb geführt werden dürfte oder nach den Verlautbarungen von Unternehmensberatungen und anderen nicht dem Gemeinwohl verpflichteten Akteuren müsste.[5] Zudem ist es denkgesetzwidrig, staatliche Monopole durch private Monopole, Oligopole oder äquivalente Strukturen wie Kartelle zu ersetzen.
Es hätte schon seit vielen Jahren im Gefolge der unreflektierten Überbetonung des sharehoulder value – ausgehend vom Banken- und Automobilsektor – auffallen müssen, dass ein die Stabilität der Gesellschaft und die rechtsstaatliche Demokratie gefährdender ,Kulturwandel‘ initiiert wurde: Der Dienst am Menschen wurde immer geringer eingeschätzt und dem gemäß indiskutabel niedrig entlohnt, während die Entgelte vor allem in der Finanz- und dann in der Automobilbranche unvertretbar anschwollen, zu einem nicht geringen Teil unter Gefährdung des Gemeinwohls und der Stabilität des gesamten Staatswesens. Kausal hierfür ist auch die seit vielen Jahren um sich greifende Schaffung von ,Näheverhältnissen‘ zu Wirtschaftskreisen durch die Politik.
3. Die Privatisierung und Kommerzialisierung des Betriebs eines Krankenhauses hat noch weitere – regelmäßig ausgeblendete – Facetten, die rechts- und sozialstaatlich nicht hingenommen werden dürfen. Die Güte der medizinischen Versorgung der Menschen und die verantwortliche ärztliche Tätigkeit würden direkt von Analysten und Ratingagenturen definiert und gelenkt. Sie können den Unternehmenswert des so dem freien Spiel der Marktkräfte ausgelieferten Krankenhauses bestimmen, etwa über Kreditbedingungen, Gewinnerwartungen – besser als Gewinnforderungen gekennzeichnet.[6] Es wird ferner ein Gefährdungspotenzial zulasten der Patienten und der sich ihrer Verantwortung für die ärztliche Tätigkeit noch bewussten Mitglieder dieses Berufsstandes geschaffen.
Die Überantwortung der Definitionshoheit an Entscheidungsträger außerhalb des ethisch gebundenen Berufsstandes ist nicht hinnehmbar und widerspricht allen hergebrachten Grundsätzen des Rechts- und Sozialstaats. Zudem verführen kommerzielle Strukturen mit dem Ziel der Gewinnmaximierung zu Regelverstößen, Umgehungs- und Vermeidungsstrategien.
4. Die Führung eines Krankenhauses als kommerzieller Betrieb, der definitionsgemäß und systemwidrig die Gemeinwohlverpflichtung verletzt und der Gewinnerzielung die größte Aufmerksamkeit schenkt, hat noch eine weitere für Staat und Gesellschaft gefährliche Auswirkung. Diese ist ebenfalls geeignet, unmittelbar die Volksgesundheit als solche zu bedrohen.
Die Finanzmarktkrise hat das Problem der so genannten systemrelevanten Banken ins allgemeine Bewusstsein gerückt. Diese müssten ,am Leben erhalten werden‘, weil andernfalls der Bestand eines Staatswesens bedroht sei. Wenn durch die Kommerzialisierung von Krankenhauswesen und Krankenfürsorge außerhalb durch die Schaffung von personeller Knappheit durch die Privatisierung des Krankenhauswesens und die Förderung medizinischer Versorgungszentren systemrelevante Verbünde entstehen, kann es beim Zusammenbruch eines Verbundes regional zu lebensbedrohlichen Versorgungslücken im medizinischen Bereich kommen.
II. Einzelheiten
1. Da die Frage der Kommerzialisierung des Krankenhauswesens die Grundlagen der Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland und das Sozialstaatsprinzip betrifft, ist zunächst von einer insoweit einschlägigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auszugehen. Grundlegende Bedeutung hat das Urteil zur Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Unternehmen.[7] In dem Mitbestimmungsurteil hat das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich zur Wirtschaftsordnung ausgeführt, dass die Freiheit des Gesetzgebers zur Gestaltung der Wirtschaftsordnung nicht zu einer Verkürzung der in den Einzelgrundrechten verbürgten Freiheiten führen darf, ohne die nach der Konzeption des Grundgesetzes ein Leben in menschlicher Würde nicht möglich ist. Die Aufgabe für den Gesetzgeber besteht sonach darin, die grundsätzliche Freiheit zu wirtschafts- und sozialpolitischer Gestaltung mit dem Freiheitsschutz zu vereinen, auf den der einzelne Bürger gerade auch dem Gesetzgeber gegenüber einen verfassungsrechtlichen Anspruch hat.
Demgemäß hatte das Bundesverfassungsgericht schon zu Beginn seiner Rechtsprechung die Bedeutung des Sozialstaatsprinzips für die Gesellschaft und deren Stabilität und damit für die rechtsstaatliche Demokratie insgesamt verdeutlicht. Hierzu hat es erläutert, dass der Gesetzgeber zur Verwirklichung des Sozialstaates zu sozialer Aktivität, vor allem dazu verpflichtet ist, sich um einen erträglichen Ausgleich der widerstreitenden Interessen und um die Herstellung erträglicher Lebensbedingungen für alle zu bemühen.[8]
Des Weiteren bedürfen zwei Passagen aus dem seinerzeitigen KPD-Verbotsurteil des Bundesverfassungsgerichts hier der Erwähnung:
„Die Tendenz der Ordnung und die in ihr angelegte Möglichkeit der freien Auseinandersetzung zwischen allen realen und geistigen Kräften wirkt aber in Richtung auf Ausgleich und Schonung der Interessen aller. Das Gemeinwohl wird eben nicht von vornherein gleichgesetzt mit den Interessen und Wünschen einer bestimmten Klasse; annähernd gleichmäßige Förderung des Wohles aller Bürger und annähernd gleichmäßige Verteilung der Lasten wird grundsätzlich erstrebt. Es besteht das Ideal der sozialen Demokratie in den Formen des Rechtsstaates.“[9]
An anderer Stelle führt das Bundesverfassungsgericht aus:
„Darüber hinaus entnimmt die freiheitliche demokratische Grundordnung dem Gedanken der Würde und Freiheit des Menschen die Aufgabe, auch im Verhältnis der Bürger untereinander für Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu sorgen […]. Vorzüglich darum ist das Sozialstaatsprinzip zum Verfassungsgrundsatz erhoben worden; es soll schädliche Auswirkungen schrankenloser Freiheit verhindern und die Gleichheit fortschreitend bis zu dem vernünftigerweise zu fordernden Maße verwirklichen.“[10]
2. Allerdings möchte ich nicht verschweigen, dass trotz der Gültigkeit dieser Rechtsprechung sich das Bundesverfassungsgericht mit dieser Problematik Sozialstaatsprinzip und Gleichheit der Menschen neuerdings etwas schwer tut. Dies zeigt das Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Januar 2012 über eine Verfassungsbeschwerde[11]. Diese betraf die Anordnung und Durchführung einer besonderen Sicherungsmaßnahme durch Bedienstete einer mit der Durchführung des Maßregelvollzugs beliehenen privatrechtlich organisierten Kapitalgesellschaft. In diesem Zusammenhang erwähnt der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts, dass die Wahrnehmung von (öffentlichen) Aufgaben durch Berufsbeamte Kosten verursachen könne, die in anderen Organisationsformen – vor allem etwa im Privatisierungsfallwegen dann sich bietender Aufgabenerledigung zu Niedriglöhnen – vermeidbar wären. Das ist der Problematik nicht angemessen und steht im Widerspruch zu den zuvor wiedergegebenen Passagen des KPD-Verbotsurteils, ganz abgesehen davon, dass man hieraus die Billigung eines Regelverstoßes und eine Verletzung des Sozialstaatsprinzips durch das Bundesverfassungsgericht herleiten könnte.
3. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1990[12] streifte im Zusammenhang mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit von Vorschriften des Krankenhausfinanzierungsgesetzes von 1972 das Problem von Krankenfürsorge und gleichem Zugang der Menschen. Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits war die Ablehnung der Aufnahme einer Privatklinik in den Krankenhausplan des Freistaates Bayern. Schon seinerzeit unterlief dem Bundesverfassungsgericht eine gedankliche Nachlässigkeit, wie die folgende Passage ausweist:
„Es liegt auf der Hand, dass die staatliche Förderung und wirtschaftliche Planung des Krankenhauswesens erheblich erleichtert wird, wenn unnötige und leistungsschwache Krankenhäuser möglichst früh aus dem Wettbewerb ausscheiden. Während dies normalerweise durch die Marktgesetze bewirkt wird, bedarf es staatlicher Lenkungsmaßnahmen, wenn die Preise durch staatliche Fördermittel beeinflusst sind. Der Sinn dieser Förderung würde verfehlt, käme sie auch allen unnötigen und leistungsschwachen Anbietern zugute. Darüber hinaus müsste das (staatlich geförderte) Überangebot an Betten zu einer Steigerung der laufenden Betriebskosten führen. Selbst bedarfsgerechte und leistungsstarke Kliniken wären davon betroffen, weil sie weniger in Anspruch genommen würden und deshalb nicht voll ausgelastet wären.“[13]
Das Bundesverfassungsgericht hat hier zunächst eine Prüfung des angefochtenen Ablehnungsbescheides anhand der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 des Grundgesetzes vorgenommen.[14] Es hat allerdings nicht erkannt, dass das verfassungsrechtliche Terrain vom Sozialstaatsprinzip her aufzubereiten war, weil es im Kern nicht um die Berufsfreiheit von Betreibern privater Kliniken ging. Vielmehr stand die Wahrnehmung einer zentralen Staatsaufgabe, der Versorgung der Bevölkerung im Krankheitsfall, inmitten. Unter diesem Gesichtspunkt war der Hinweis auf Wettbewerb und Markt verfehlt, weil diese einer anderen Kategorie angehören, der Marktwirtschaft für Warenverkehr und nicht der Daseinsvorsorge.
Zudem ging es jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt um die Konturierung des ebenfalls verfassungsrechtlich abgesicherten Subsidiaritätsprinzips, d. h., dass sich private (dazu zählen auch gemeinnützige) Anbieter im Krankenhausbereich betätigen dürfen. Beim Subsidiaritätsprinzip steht allerdings der Gedanke im Vordergrund, dass bei einer bestehenden – hier verfassungsrechtlich geforderten – Staatsaufgabe für die Tätigkeit von Privaten lediglich ein Lückenschluss in Betracht kommt – bei staatlicher Förderung – oder aber ihr Tätigwerden allein in ihren Risikobereich fällt. All das hat mit Markt und Wettbewerb nichts zu tun, weil die Ausprägung des Sozialstaatsprinzips in diesem Bereich der Krankenfürsorge solches verbietet.
Diese Entscheidung aus dem Jahr 1990 lässt den schon eingesetzten ,Kulturwandel‘ weg von der Krankenfürsorge für die Menschen hin zum Ökonomieprinzip des allgemeinen Geschäfts- und Wirtschaftsverkehrs deutlich erkennen.
4. Ein weiterer Gesichtspunkt kommt hinzu. Die Versorgung der Menschen im Krankheitsfall als herausragende Staatsaufgabe ist über das Sozialstaatsprinzip und auch das Demokratieprinzip – was generell übersehen wird – ferner geprägt vom Gedanken der Solidargemeinschaft. Das Gegenbeispiel wäre etwa die heftige politische Auseinandersetzung in den Vereinigten Staaten von Amerika über Obamacare. Diesen Gedanken hat das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit der gesetzlichen Krankenversicherung aufgegriffen, die im Regelfall hinter der Versorgung der Menschen im Krankheitsfall steht und deshalb mit dieser nach einheitlichen Maßstäben zu bewerten ist.
In BVerfGE 102,68 <89> ist für die Krankenversorgung der Rentner insoweit ausgeführt:
„Ein Anhaltspunkt für die Sachgerechtigkeit einer solchen Grenzziehung mit der Folge unterschiedlicher Beitragslast ist die Beachtung der Prinzipien, die den Gesetzgeber bei der Einrichtung der Pflichtversicherung insgesamt leiten. Hier stellt er einerseits auf die Schutzbedürftigkeit des Einzelnen ab und berücksichtigt andererseits, dass die Solidargemeinschaft leistungsfähig ist und bleibt. Die Pflichtversicherung erfasst nach der gesetzlichen Typisierung jedenfalls die Personengruppen, die wegen ihrer niedrigen Einkünfte eines Schutzes für den Fall der Krankheit bedürfen, der durch Zwang zur Eigenversorgung erreicht werden soll.“
Auch das hat nichts mit Markt und Wettbewerb zu tun. Das wird noch an zwei anderen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts deutlich, einmal zum Pflegeversicherungsgesetz[15] und an der Entscheidung über die Zulassung von Ärzten nach dem 55. Lebensjahr zur vertragsärztlichen Versorgung andererseits.[16]
„Die Fürsorge für Menschen, die vor allem im Alter zu den gewöhnlichen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens aufgrund von Krankheit und Behinderungen nicht in der Lage sind, gehört im Geltungsbereich des Grundgesetzes zu den sozialen Aufgaben der staatlichen Gemeinschaft (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG). Dem Staat ist die Wahrung der Würde des Menschen in einer solchen Situation der Hilfsbedürftigkeit besonders anvertraut (Art. 1 Abs. 1 GG). Soweit der durch die Pflegebedürftigkeit hervorgerufene Hilfsbedarf finanzielle Aufwendungen notwendig macht, ist es ein legitimes Konzept des zur sozialpolitischen Gestaltung berufenen Gesetzgebers, die dafür notwendigen Mittel auf der Grundlage einer Pflichtversicherung sicherzustellen, die im Grundsatz alle Bürger als Volksversicherung erfasst.“ (a.a.O., S. 221)
In BVerfGE 103, S. 185 f. wird dargelegt:
„Das System der gesetzlichen Krankenversicherung ist so ausgestaltet, dass es in weiten Bereichen nicht durch Marktkräfte gesteuert wird. Die Preise für Güter und Leistungen sind nicht Gegenstand freien Aushandelns im Rahmen eines Wettbewerbs.“
Sonach ist festzuhalten, dass Markt und Wettbewerb in diesem sozialen Bereich systemfremd und deshalb verfehlt sind, weil sie dem Sozialstaats-, Rechtsstaats- und Demokratieprinzip nicht gerecht werden.
Allerdings sind immer wieder Unebenheiten zu beobachten. So wird in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wegen Behandlung eines Schwerstkranken wiederum zu Recht die solidarische Versorgung im Krankheitsfall als Ausprägung des Sozialstaatsprinzips betont und bestätigt[17] und ferner, dass der Schutz des Einzelnen in Fällen von Krankheit in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine Grundaufgabe des Staates ist. Ihr sei der Gesetzgeber nachgekommen, indem er durch Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung als öffentlich-rechtlicher Pflichtversicherung für den Krankenschutz eines Großteils der Bevölkerung Sorge getragen und die Art und Weise der Durchführung dieses Schutzes geregelt habe. In Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips richte er die Beiträge an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des einzelnen Versicherten und nicht am individuellen Risiko aus.[18]
5. Schon aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip ergibt sich die Pflicht des Gesetzgebers, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen. Dies gilt nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in besonderem Maße, wenn und soweit es um die Sicherung der Menschenwürde und der menschlichen Existenz geht.[19] Als Grundrecht ist die Norm nicht nur Abwehrrecht gegen Eingriffe des Staates. Der Staat muss vielmehr die Menschenwürde auch positiv schützen. Wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Erfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür dem Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen.
Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers, weil das Grundrecht die Würde jedes individuellen Menschen schützt.[20] Der unmittelbare verfassungsrechtliche Leistungsanspruch gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen als auch Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit umfasst.[21]
III. Abschließende Bewertung
1. Das Sozialstaatsprinzip nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist wie Rechtsstaats- und Demokratieprinzip ein Wert an sich. Das bedeutet, dass das Sozialstaatsprinzip nicht in Euro und Cent gemessen werden darf und sich deshalb ein solches Ansinnen wegen der Verbindung mit der unantastbaren Würde des Menschen gemäß Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes verbietet. Das gilt zwangsläufig und folgerichtig auch für die substantiellen Ausprägungen von Sozialstaat und Menschenwürde. Die Gesundheit der Menschen und in ihrer Gesamtheit die Volksgesundheit, ihre Bewahrung und Behandlung im Krankheitsfall ist deshalb ein zentrales Strukturelement der Staatsform der Bundesrepublik Deutschland nach dem Grundgesetz.
2. Es erschließt sich ohne großen gedanklichen Aufwand, dass die Gesundheit vor diesem Hintergrund kein ,marktfähiges Gut‘ ist, das Gegenstand des allgemeinen Wirtschaftsverkehrs sein könnte. Damit würde die unantastbare Würde des Menschen verletzt sowie die fundamentalen Normen des Grundgesetzes unterlaufen und in ihrem Sinn als Leitlinie für alles staatliche Handeln in ihr Gegenteil verkehrt.
Die Krankenfürsorge allgemein wie auch der Betrieb eines Krankenhauses und der medizinischen Versorgungszentren wie auch die bewährte Tätigkeit in der ärztlichen Einzelpraxis dürfen deshalb nicht kommerziell ausgestaltet werden. Eine solche Organisationsstruktur gehört einer Kategorie an, die außerhalb der Verfassung und in ihrem ,ethischen‘ Gehalt mehrere Ebenen unterhalb der Staatsstrukturbestimmung ,Sozialstaat‘ in Verbindung mit der Menschenwürde angesiedelt ist. Daraus folgt abschließend, dass in Anbetracht der aufgezeigten Verbindung von Sozialstaatsprinzip und Menschenwürde in der Krankenfürsorge allen Menschen die gleiche Zuwendung zuteil werden muss. Die Würde jedes einzelnen Menschen ist der der Mitmenschen gleichrangig und gleichwertig.
* Dr. h.c. Universitas Islam Indonesia – UII – Yogyakarta Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D. Richter am Bundesgerichtshof a. D. Honorarprofessor an der Universität Freiburg im Breisgau Ehrenvorsitzender der Deutschen Sektion der Internationalen Juristenkommission e.V. und der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe Ehrenmitglied des Internationalen Beratungskomitees und Ehrenvorsitzender des Think Tank Africast von CAFRAD 12.Straubinger Ethiktag am 13. November 2018
Endnoten
[1] Einzelheiten hierzu bei Broß, Privatisierung staatlicher Infrastrukturbereiche in der „sozialen Demokratie“, Schriften der Hans-Böckler-Stiftung Bd. 84, 2015; ders., Der Umbau mehr oder weniger existenzieller Infrastrukturen, insbesondere der sozialen Sicherung, als Demokratieproblem, in: Hochhuth (Hrsg.), Rückzug des Staates und Freiheit des Einzelnen, Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Bd. 69, Berlin 2012, S. 9 ff.
[2] Einzelheiten hierzu bei Broß, Wasser, Gas, Strom… Warum Privatisierung kein Allheilmittel ist oder sogar die Demokratie gefährden kann, Vortrag am 30. Januar 2013 in Berlin, Schriftenreihe zur Rekommunalisierung der Berliner Wasserbetriebe. Hrsg. vom Berliner Wassertisch, Heft 2, 2013. (pdf)
[3] Vgl. Art. 79 Abs. 3.
[4] Festschrift für Wolfgang Krüger, 2017,S. 533 ff.
[5] Grundlegend hierzu mit zahlreichen Beispielen und Nachweisen Rolf Stürner, Markt und Wettbewerb über alles? Gesellschaft und Recht im Focus neoliberaler Marktideologie, München 2007.
[6] In diesem Zusammenhang ist die Formulierung eines Gewinnziels von 25 % für die Deutsche Bank AG seinerzeit durch Josef Ackermann in Erinnerung zu rufen.
[7] Vgl. BVerfGE 50, 290 <336–338>.
[8] Vgl. BVerfGE 1, 97 <105>.
[9] BVerfGE 5, 85 <198>.
[10] BVerfGE 5, 85 < 205/206.
[11] Vgl. BVerfGE 130, 76.
[12] Vgl. BVerfGE 82, 198.
[13] BVerfGE 82, 230.
[14] a.a.O., S. 228 f. [15] BVerfGE 103, 197.
[16] BVerfGE 103, 172. [17] Vgl. BVerfGE 115, 25 <42>.
[18] Vgl. BVerfGE 115, S. 43; es kommt also immer auf den Einzelfall an, siehe etwa BVerfGE 140, 229.
[19] Vgl. BVerfGE 125, 175 <223>.
[20] Vgl. BVerfGE 125, 175 <222 f.>; ebenso etwa BVerfGE 132, 134 <159>; 137, 34 <72>.
[21] Vgl. BVerfGE 125, 175 <223>; vgl. auch BVerfGE 123, 186 <242/243>; 113, 167 <215>.
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