Ausgangstext für die Vorträge 2020 zum Thema „Private Altersvorsorge in der sozialen Demokratie der Gegenwart“ – Überlegungen und Anregungen – Fassung 26. Februar 2020
I. Einführende Überlegungen
1. Das Thema macht zunächst einen rasch zu identifizierenden Eindruck, was Gegenstand und Problemlage betrifft. Die Menschen leben mit bisher jedenfalls stetig steigender Lebenserwartung beträchtlich länger, werden regelmäßig allerdings mit zunehmendem Lebensalter öfter, schwerer und länger krank und trachten zudem danach, sich früher in den Ruhestand zu begeben. Demgegenüber werden die Beitragszahler im Umlageverfahren im Vergleich dazu weniger und deshalb scheint die Lösung dieses demographischen Problems – eine geradezu klassische Zwangspunktlage – nahe liegend darin zu bestehen, dass die Menschen eben länger arbeiten und damit die Aussicht auf einen langen ungetrübten Ruhestand spürbar verkürzen, weil man zudem erwarten kann, dass sich auch die Zeiten von Krankheit und Leiden verkürzen. Ferner könnte ein privater Beitrag zur Altersvorsorge helfen, die Problemlage zu entschärfen.
2. Allerdings könnte eine solche Überlegung wesentlich zu kurz greifen und deshalb von vornherein eine sachgerechte und dem gesamten Komplex gerecht werdende Lösung verhindern. Die üblichen Lösungsvorschläge weisen einen eklatanten Mangel auf und beruhen auf grundlegenden Fehlvorstellungen. Die Altersversorgung in der modernen Gesellschaft ist in ein sehr komplexes Geflecht verschiedenster nationaler und internationaler Gegebenheiten und Entwicklungen eingebettet. Von daher ist eine weit ausgreifende und umfassende Betrachtung geboten, damit überhaupt vernünftige Ansätze für eine der modernen Gesellschaft und den Menschen gerecht werdende angemessene Gestaltung der Altersvorsorge erarbeitet werden kann.
Solche werden von vornherein verfehlt, wenn rein betriebswirtschaftlich und ökonomisch überlegt wird; denn es geht um Menschen und die von ihnen gebildete Gesellschaft. Ihnen ist weltweit durch die insoweit verbindend wirkende Globalisierung eine unantastbare Menschenwürde eigen, die in ihrer Gesamtheit Grundlage einer jeden der nach den weltweit bestehenden Regeln der zahlreichen Staatenverbindungen ist. Der Umstand, dass diese Grundlage fortwährend und zunehmend beschädigt und in immer zahlreicher werdenden Regionen auch durch den Freihandel zerstört wird, kann nicht als Rechtfertigung dafür dienen, eine soziale Demokratie europäischer Prägung nach Maßgabe der Europäischen Verfassung und den nationalen Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten aufzugeben.
Wichtige Gesichtspunkte für eine angemessene Lösung lassen sich ohne unzumutbare Anstrengungen gewinnen, wenn man umfassend die Rahmenbedingungen für eine private Altersvorsorge ermittelt und diese zu einem sinnvollen und den grundlegenden sozial- und rechtsstaatlichen Vorgaben gerecht werdenden Ausgleich bringt. Gerade die Gründung und das Eingehen immer weiterer Staatenverbindungen verstellt vielen verantwortlichen Akteuren den Blick für die innere Systemgerechtigkeit und das Ineinanderwirken von sozial- und rechtsstaatlichen Bindungen und Verpflichtungen. Diese entstehen aus den auf den verschiedensten Ebenen eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen sowie Problemlagen, die auf den zahlreicher werdenden Teilidentitäten beruhen, wenn bei verschiedenen Staatenverbindungen nicht jeweils dieselben Mitglieder auftreten.
II. Überlegungen zu den Rahmenbedingungen
1. Ausgangspunkt der Überlegungen für die Gestaltung der privaten Altersvorsorge ist die Frage nach gesicherten Anlageobjekten, die im Alter und damit noch nach Jahrzehnten zur Verfügung stehen und eine von Anfang an fixierte Rendite abwerfen. Sonach kann es sich nicht um Anlageobjekte handeln, die im wirtschaftlichen Wettbewerb angesiedelt sind und jederzeit frei zur Disposition der Marktkräfte stehen. Das gilt im Zeitalter der Globalisierung und des von der Europäischen Union und gerade auch von Deutschland propagierten letztlich ethisch und sozial bindungslosen Freihandels in besonderem Maße. Aktien an Wirtschaftsunternehmen dürfen auch deshalb für die hier in Rede stehende private Altersvorsorge breiter Bevölkerungskreise nicht das Mittel erster Wahl sein. Schon das Platzen der New Economy im Jahr 2000 wie auch die seit 2008 andauernde verheerende Finanzmarktkrise stützen diese Auffassung.
Aus diesem Grunde dürfen staatliche Modelle für die private Aufstockung der gesetzlichen Rente nicht hieran anknüpfen. Die Zinsentwicklung der privaten Lebensversicherungen wie der Sparzinsen bestätigen auch diesen Standpunkt.
2. Es müssen deshalb andere Wege mit der Gestaltung von Vorsorgemodellen beschritten werden, die allerdings nicht völlig unbekannt sind und sich in der Vergangenheit zudem bewährt haben. Sie haben ferner den Vorzug, dass sie dem Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes gerecht werden und der Würde der für eine private Altersvorsorge in diesem Sinne in Betracht kommenden Menschen die gebotene Achtung entgegenbringen.
Mit den nachfolgenden Darlegungen knüpfe ich an frühere Arbeiten an, ohne diese jeweils im Einzelfall zu zitieren. Sie sind alle über das Broß-Archiv des Bayerischen AnwaltVerband in pdf-Form, veröff. zum Teil vom Berliner Wassertisch mit umfassenden weiteren Nachweisen in zwei seiner Veröffentlichungsreihen sowie im Gesamtnachweis über die Bibliothek des Bundesverfassungsgerichts zugänglich.
Im Einzelnen seien an dieser Stelle nur auswahlweise genannt „Zu Risiken und Nebenwirkungen …… Zwang zum Risiko“ – Hauptpodium Teil 2 am 19. Juni 2004 des 95. Deutschen Katholikentages in Ulm; „Die Zukunft des Sozialen – in Europa?“ Europapolitische Fachtagung des Paritätischen Gesamtverbandes e.V. am 13. Dezember 2007 in Berlin (Subsidiarität und Solidarität zwischen nationalem Sozialrecht und EU-Wettbewerbsordnung); Privatisierung öffentlicher Infrastruktur der Daseinsvorsorge aus rechtspolitischer und verfassungsrechtlicher Sicht – unter besonderer Berücksichtigung der Privatisierung öffentlicher Krankenhäuser – Vortrag beim Interessenverband kommunaler Krankenhäuser in Berlin am 12. Juni 2012; Fürsorgepflicht und Gewinnmaximierung schließen sich gegenseitig aus – ein Plädoyer für einen umsichtigen Umgang mit hoheitlichen Aufgaben, Tagung des Fachverbands für Soziale Arbeit, Strafrecht und Kriminalpolitik, Bremen 29. September 2006; Wirtschaftsordnung und Verfassung – einige kritische Betrachtungen –, Festschrift für Rolf Stürner, Tübingen 2013, Band I, S.3).
III. Negative gesetzgeberische Einwirkungen auf für eine private Altersvorsorge geeignete Rahmenbedingungen
1. Privatisierungen öffentlicher Infrastruktur
a. In einem ersten Schritt ging es vor etwas mehr als 30 Jahren um den „schlanken Staat“, um Bürokratieabbau, Verwaltungsinnovation und Steigerung der Verwaltungseffizienz. Die ursprüngliche Zielrichtung einer Evaluierung und Effektivierung des Binnenbereichs war zu begrüßen; denn über Jahrzehnte hatten sich in den Verwaltungsabläufen Gewohnheiten und Strukturen herausgebildet, deren Sachgerechtigkeit nicht ohne weiteres ins Auge sprang. Diese Entwicklung war vor allem auch durch die aufkommende neue Informationstechnologie angestoßen worden. Zudem war infolge einer von der gemeinschaftsrechtlichen Ebene her beförderten Regulierungsflut (weniger nachsichtige Betrachter pflegen von Regulierungswut zu sprechen) eine überprüfung bestehender Vorschriften und der davon beeinflussten Verwaltungsabläufe und Verwaltungsstrukturen unausweichlich.
b. Diese Entwicklung wurde teilweise „flankiert“ von einer neuen Theorie des „Gewährleistungsstaates“. Hierbei handelt es sich um ein Rechts- und Staatsverständnis, das zunehmend von einer eigenständigen Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch den Staat absieht und sich stattdessen lediglich auf Vorkehrungen zur Sicherung der Verfolgung und Erreichung der gemeinwohlorientierten Ziele im Zusammenwirken mit Privaten oder allein durch Private beschränkt. Diese Entwicklung verlief lange Zeit weit gehend unbehelligt von dem größten Teil der Wissenschaft und der Medien – gleichsam rundum durch ein Tabu geschützt –; sie beherrschte die Politik national, auf der EU-Ebene, von IWF, Weltbank und WTO und wirkte in die an Fahrt gewinnende Bewegung hinein, Freihandelsabkommen mit Investorschutz und regulatorischer Zusammenarbeit abzuschließen.
Nur wenige kritische Stimmen machten sich die Mühe, die Sachgerechtigkeit dieser Maßnahmen und die „Gewährleistung“ von Stabilität für Gesellschaften und Staaten sowie global und regional für den Weltfrieden zu hinterfragen, weil Gesellschaften mit einer solchen Wirtschaftsstruktur nicht stabilisiert werden, sondern stabile sogar ins Rutschen geraten können, wie man inzwischen in zahlreichen Staaten in Afrika, Amerika, aber auch in Europa beobachten kann.
c. Sofern in diesem Zusammenhang Klagen geführt wurden, waren Ursachen und Verantwortliche schnell identifiziert, so die Globalisierung, die Märkte wie auch – was die Beschäftigungslage im besonderen betrifft – die unter der Entwicklung leidenden Menschen selbst, weil sie nicht qualifiziert oder mobil seien. Die Forderung nach Mobilität der Arbeit suchenden Menschen bedarf näherer kritischer Betrachtung. Deren Menschen- und Familienfeindlichkeit wird ausgeblendet. Kindern werden ein oder beide Elternteile entzogen und Familien zerrissen sowie kulturelle Bindungen zerstört. Es ist bezeichnend, dass die EU auch insoweit – wie des öfteren – in nicht auflösbare Wertungswidersprüche gerät.
Die Initiierung dieser Entwicklung beruht ersichtlich auf einem grundlegenden Irrtum: Der Markt vermag nichts entsprechend dem Rechtsstaats-, Sozialstaats- und Demokratieprinzip zu richten. Die Menschen und gerade die im Markt Agierenden und Herrschenden sind nur selten und nur höchst ausnahmsweise am Gemeinwohl interessiert wie z.B. die Finanzmarktkrise, Dieselmanipulationen und Schwarze Kassen zur politischen Landschaftspflege belegen. Die Akteure haben überwiegend ausschließlich ihren eigenen Vorteil im Auge und verfolgen diesen rücksichtslos. Weltweit ist im Gefolge dieser Entwicklung eine Funktionselite herangewachsen, die von allem nur den Preis sowie den eigenen Vorteil und von nichts den Wert kennt.
d. Hier begegnet uns der Ausgangspunkt für die Privatisierung von vielen Bereichen der Daseinsvorsorge. So kam es zu den Reformen von Bahn und Post wie auch zur Privatisierung von Energieversorgungsunternehmen und anderen Unternehmen des staatlichen Infrastrukturbereichs (z.B. Wasserversorgung, Abwasserbeseitigung, Müllbeseitigung, öffentlicher Nahverkehr, aber auch überaus Besorgnis erregend von Krankenhäusern).
Inzwischen hat sich zwar verschiedentlich eine differenziertere und auch nüchternere Beurteilung bemerkbar gemacht. Krasseste Fehlentwicklungen in den privatisierten Bereichen können nicht mehr unterdrückt oder übersehen werden. Allerdings ist auf das Versagen der Förderer und Bewunderer am Ausgangspunkt hinzuweisen. Von vornherein musste man ohne Schwierigkeiten erkennen, dass es nicht sachgerecht ist, staatliche Monopole durch private Monopole oder Oligopole sowie äquivalente Strukturen (z.B. Kartelle) zu ersetzen. Es war auch nicht fern liegend, dass die Funktionsfähigkeit sowie die Funktionstüchtigkeit der vormals öffentlichen Infrastrukturbereiche und damit die Versorgungssicherheit der Menschen nicht gehoben wurde; vielmehr wurde vieles reichlich unsicher und abgesehen vom Telefon teurer. Wegen der früheren Quersubventionierung aus sozialstaatlichen Gründen ist allerdings auch dieses kein positives Beispiel.
Was die seit langem bedrückende Wohnungsnot betrifft, ist – auf sinnvolle Abhilfemöglichkeiten komme ich unter IV. – in Erinnerung zu rufen, daß die öffentliche Hand, öffentliche und dem Gemeinwohl verpflichtete private Unternehmen wie auch z.B. die Gewerkschaften mit der Neuen Heimat unübersehbar viele „soziale“ Wohnungen verkauft und dem freien Spiel der Marktkräfte ausgeliefert haben.
e. Unter rechtsstaatlich-demokratischen Gesichtspunkten ist festzuhalten, dass diese Bereiche beliebig privater Disposition überantwortet werden. Es wird ein „Spielfeld“ für intransparente Finanzakteure, Ratingagenturen und Analysten eröffnet, denen der Staat nichts wirksam entgegenzusetzen vermag. Diese Akteure bestimmen von nun an auch die Bedingungen für den Wirtschaftsstandort Deutschland und damit die Richtlinien der Wirtschaftspolitik. Zu Ende gedacht und zwingend vor Inangriffnahme solcher Privatisierungsmaßnahmen muss man bedenken, dass etwa in Bezug auf Krankenhäuser und andere der Behandlung von gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Menschen dienende Einrichtungen etwa über die Kreditbedingungen und die Beurteilung des Unternehmenswertes von solchen Kräften das medizinische Niveau definiert und dem entsprechend gesteuert werden kann. Der Verweis auf staatliche Regulierungsbehörden verschlägt nicht. Wir erfahren nahezu tagtäglich, dass eine solche wirksame Überwachung auch mit noch so aufgeblähten oder umgekehrt klein gesparten Apparaten nicht zu schaffen ist. Man denke nur an die zunehmenden Rückrufaktionen in vielen Bereichen des täglichen Lebens.
f. Diese Entwicklung wirkte sich unmittelbar auf die Struktur der Arbeitswelt aus. Die Privatisierungen öffentlicher Infrastruktur – ohne die unreflektierten Privatisierungen der Treuhand im übrigen – hatte den Verlust von etwa 1,2 Millionen regulären Arbeitsverhältnissen zur Folge. Dies haben meine Untersuchungen anhand der statistischen Jahrbücher für die Zeit von 1971–2003 ergeben und sind in den einschlägigen Fachkreisen unwidersprochen geblieben.
Seit Einsetzen dieser Privatisierungen kam es ferner verstärkt zur Ausbildung von Mindestlöhnen, Minijobs (2019 mehr als 7 Mio), Leiharbeit, Scheinselbstständigkeit und ausufernder Schattenwirtschaft. Nahe liegend hat dies gravierende Nachteile für die Altersversorgung aus den Rentenkassen für alle Versicherten und zudem für die Betroffenen im besonderen. Der Staat verliert also nicht nur Einnahmen, sondern er muss aus dem schmaler gewordenen Topf zunächst die aufgeblähten Regulierungsbehörden finanzieren und schließlich die in den privatisierten Bereichen tätigen Unternehmen „bei Laune halten“, etwa durch Vorteile einer Unternehmenssteuerreform.
Das in diesem Zusammenhang häufig gebrauchte Argument, die Globalisierung erfordere solche Maßnahmen, ist ungeachtet dessen ohnehin nicht stichhaltig. Die Einrichtungen der Daseinsvorsorge und die staatliche Infrastruktur sind örtlich gebunden und durch die öffentliche Zweckbestimmung von vornherein einem Markt und einem Wettbewerb verschlossen. Das Wasser wird in Deutschland gewonnen und verbraucht und elektrische Energie kann jedenfalls bisher noch nicht über die Weltmeere transportiert werden. Die enormen Wanderungsbewegungen weltweit – in Deutschland leben etwa 16 Millionen Menschen aus Zuwandererfamilien – haben die Globalisierung nicht ausgelöst, sondern diese Menschen sind Opfer und Leidtragende dieser verfehlten weltweiten Wirtschaftspolitik. Diese Entwicklung stellt enorme Anforderungen an die aufnehmenden wie die abgebenden sich fühlbar entvölkernden Staaten. Auch insoweit sind grundlegende Bewusstseinsbildungsprozesse Voraussetzung für eine Integration, wenn sie gelingen soll.
g. Zur weiteren Aufhellung der Rahmenbedingungen für eine private Altersvorsorge ist es hilfreich, sich Gedanken darüber zu machen, in welchem Regelungsbereich des Grundgesetzes die Altersvorsorge angesiedelt sein könnte. Nahe liegend führt das zum Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1. Dabei hat es aber nicht sein Bewenden. Das Sozialstaatsprinzip gewinnt einen substantiellen Teil seines Gehalts aus der Verbindung mit der Würde des Menschen gemäß Art. 1 Abs. 1 GG.
Schon in den frühen Entscheidungen Mitte der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts (BVerfGE 6, 32 – Elfes – und 7, 198 – Lüth) hat das Bundesverfassungsgericht befunden, dass das Grundgesetz eine wertgebundene Ordnung aufgerichtet hat, die die Eigenständigkeit, die Selbstverantwortlichkeit und die Würde des Menschen in der staatlichen Gemeinschaft sichern soll. Die obersten Prinzipien dieser Wertordnung sind gegen Verfassungsänderungen geschützt. Verfassungsdurchbrechungen sind ausgeschlossen. Hiernach müssen Gesetze in Einklang mit den obersten Grundwerten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als der verfassungsrechtlichen Wertordnung stehen, aber auch den ungeschriebenen elementaren Verfassungsgrundsätzen und den Grundentscheidungen des Grundgesetzes entsprechen, vornehmlich dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und dem Sozialstaatsprinzip. Vor allem dürfen die Gesetze die Würde des Menschen nicht verletzen.
Aus den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich zweifelsfrei die Vorgabe für den Gesetzgeber, dass eine Grundrechtsbetätigung – soll sie der Würde des Menschen gerecht werden – voraussetzt, dass die hierfür erforderlichen rechts-, sozialstaats- und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen bestehen. Es ist dem Gesetzgeber sonach verwehrt, durch Gestaltung der Rahmenbedingungen diese über Art. 20 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 79 Abs. 3 GG gewährleisteten Grundlagen „auf kaltem Wege“ zu unterlaufen.
Auf diese Zusammenhänge hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung in BVerfGE 33, 303 <330 f.> – numerus clausus – aufmerksam gemacht. Ein Freiheitsrecht wäre ohne die tatsächliche Voraussetzung, es in Anspruch nehmen zu können, wertlos und ferner folgt daraus, dass der soziale Rechtsstaat eine Garantenstellung für die Umsetzung des grundrechtlichen Wertsystems in der Verfassungswirklichkeit einnimmt. Man kann dies als den verfassungsrechtlichen Body-mass-Index bezeichnen.
Weitere Gesichtspunkte treten in diesem Zusammenhang hinzu. Die Staatsstrukturelemente des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland Bundesstaat, Demokratie, Sozialstaat und Rechtsstaat sind Werte an sich. Sie stehen in einem inneren Wirkungsmechanismus und bilden so ein im Gleichgewicht stehendes Gerüst zur Stützung des Staatswesens als Ganzes und dienen in ihrem Zusammenwirken der Gewährleistung und Effektivität für die Menschen. Sie sind damit die unabdingbare Funktionsbedingung für ein stabiles rechtsstaatlich-demokratisches Staatswesen in sozialer Verantwortung. Hinter den Staatsstrukturelementen stehen die Gesellschaft und die Menschen mit der ihnen zukommenden unantastbaren Menschenwürde. Sie ist nicht in Euro und Cent zu messen und die Verfassung steht insgesamt nicht unter einem betriebswirtschaftlichen Regime.
Im KPD-Verbotsurteil vor mehr als 60 Jahren (BVerfGE 5, 85 <198>) hat das Bundesverfassungsgericht zu diesen verfassungsrechtlichen Eckpunkten unter anderem ausgeführt:
„Wenn als ein leitendes Prinzip aller staatlichen Maßnahmen der Fortschritt zu ,sozialer Gerechtigkeit‘ aufgestellt wird, eine Forderung, die im Grundgesetz mit seiner starken Betonung des ,Sozialstaat‘ noch einen besonderen Akzent erhalten hat, so ist auch das ein der konkreten Ausgestaltung in hohem Maße fähiges und bedürftiges Prinzip. Was jeweils praktisch zu geschehen hat, wird also in ständiger Auseinandersetzung aller an der Gestaltung des sozialen Lebens beteiligten Menschengruppen ermittelt. Dieses Ringen spitzt sich zu einem Kampf um die politische Macht im Staat zu. Aber es erschöpft sich nicht darin………………
Die schließlich erreichten Entscheidungen werden gewiss stets mehr den Wünschen oder Interessen der einen oder anderen Gruppe oder sozialen Schicht entsprechen; die Tendenz der Ordnung und die in ihr angelegte Möglichkeit der freien Auseinandersetzung zwischen allen realen und geistigen Kräften wirkt aber in Richtung auf Ausgleich und Schonung der Interessen aller. Das Gesamtwohl wird eben nicht von vornherein gleichgesetzt mit den Interessen oder Wünschen einer bestimmten Klasse; annähernd gleichmäßige Förderung des Wohles aller Bürger und annähernd gleichmäßige Verteilung der Lasten wird grundsätzlich erstrebt. Es besteht das Ideal der ,sozialen Demokratie in den Formen des Rechtsstaates‘. Die staatliche Ordnung der freiheitlichen Demokratie muss demgemäß systematisch auf die Aufgabe der Anpassung und Verbesserung und des sozialen Kompromisses angelegt sein; sie muss insbesondere Missbräuche der Macht hemmen.“
Es ist deshalb auch darauf zu achten, dass bei der Eingehung von Staatenverbindungen keine Bindungen oder Verpflichtungen übernommen werden, die diese Gewährleistungen des Grundgesetzes gefährden oder gar missachten. Auch wenn das Grundgesetz sachgerecht europa- und völkerrechtsfreundlich ist, darf dies nicht als Freibrief dahin gehend verstanden werden, dass sich die Bundesrepublik Deutschland von diesen verfassungsrechtlichen Bindungen des Grundgesetzes lösen und so der Sache nach abschütteln dürfte, die nicht einmal mit der verfassungsändernden Mehrheit beseitigt werden könnten.
h. Zu den Rahmenbedingungen sind auch soziale Versorgungssysteme zu rechnen. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht unter Hinweis auf das Sozialstaatsprinzip ausgeführt, dass es staatliche Vor- und Fürsorge für Einzelne oder für Gruppen der Gesellschaft verlange, die aufgrund persönlicher Lebensumstände oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert seien. Die staatliche Gemeinschaft müsse ihnen jedenfalls die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein sichern und sich darüber hinaus bemühen, sie – soweit möglich – in die Gesellschaft einzugliedern, ihre angemessene Betreuung zu fördern sowie die notwendigen Pflegeeinrichtungen zu schaffen (hierzu BVerfGE 44, 353 <375>; 40, 121 <133>; 45, 376 <387>).
Der Staat hat die Pflicht, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen (BVerfGE 59, 231 <263>; s.a. BVerfGE 82, 60 <80>).
i. Was die Altersvorsorge im besonderen betrifft, ist folgendes anzumerken:
aa. Man wird diesem sicher komplexen und wenig übersichtlichen Problem vor dem Hintergrund der geschilderten Ausgangslage und der von staatlicher Seite über Jahrzehnte geschaffenen einer angemessenen und sachgerecht gestalteten Altersvorsorge widerstreitenden ungünstigen Rahmenbedingungen nur gerecht, wenn man sich auf die sozialstaatlichen Grundlagen rückbesinnt und nicht auf einer weit darunter liegenden und reichlich unreflektierten Überlegungen folgenden Ebene verharrt und von dort mehr oder weniger anspruchslose Lösungen zu entwickeln versucht. Nicht von ungefähr sind solche Ansätze bisher ohne sichtbaren Erfolg geblieben.
Auch wenn in neuerer Zeit der rechtsstaatlich-demokratische Ordnungsrahmen des öfteren stört oder gar hinderlich ist und qualifizierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als zu „gundrechtslastig“ für gerade solche öffentlichen Funktionen im Rechtsstaatsgefüge und deshalb als nicht habil angesehen werden, ist es gleichwohl unschädlich, sich mit einschlägiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, zumal in Anbetracht seiner alle Verfassungsorgane und nachgeordneten Institutionen bindenden, zu beschäftigen. Auch wenn häufig nicht der Sachverhalt stört, sondern der, der ihn aufbringt, könnte eine solche Vergewisserung im Interesse der Menschen und des Gemeinwohls hilfreich sein.
bb. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung im Zusammenhang mit dem Altersruhegeld für Abgeordnete der Parlamente ganz allgemein auf die Bedeutung der Altersversorgung in der sozialen Demokratie der Gegenwart hingewiesen. Mit der Altersversorgung (auch für Parlamentsabgeordnete) werde dem Sozialstaatsprinzip Rechnung getragen, dessen Konkretisierung für immer weitere Personenkreise zu einer finanziellen Absicherung des Alters geführt habe und führe (BVerfGE 32, 157 <165>).
Eine weitere Aufhellung der Problematik erfährt man durch die Entscheidung BVerfGE 29,221 <235 – 255>.
Es ging dort um die Aufhebung der Jahresarbeitsverdienstgrenze der Angestellten. Hierzu führt das Bundesverfassungsgericht unter anderem aus, durch die Aufhebung der Jahresarbeitsverdienstgrenze würden die höher verdienenden Angestellten erstmals verpflichtet, für das Alter, die Berufs- und Erwerbsunfähigkeit in einer bestimmten Weise und in einer bestimmten Höhe Vorsorge zu treffen. Die Bedeutung dieser Vorsorge erhellt aus der Überlegung, welche möglichen Folgen ihr Fehlen hat und welche beträchtlichen finanziellen Aufwendungen sie verlangt. Darüber hinaus bestimme die Sorge darum, wie der Einzelne für sich und seine Familie die Risiken eingeschränkter Tätigkeit oder gänzlichen Ausscheidens aus dem Arbeitsleben infolge Alters, Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit bewältige, das Denken, Handeln und unter Umständen auch die Berufswahl eines jeden verantwortungsbewussten Menschen. Gerade für ihn ist es selbstverständlich, dass er für sich und seine Familie Vorsorge trifft, sofern er dazu in der Lage ist.
Daran knüpft das Gesetz an, wenn es alle Angestellten in die Angestelltenversicherung einbezieht. Es gehe also davon aus, dass auch die höher verdienenden Angestellten trotz der Fähigkeit zu einer gewissen Eigenvorsorge noch sicherungsbedürftig im Sinne des Sozialversicherungsrechts seien. Die Bereitschaft und die Fähigkeit zur freiwilligen Selbstvorsorge bleibe grundsätzlich unberücksichtigt. Damit stelle das Gesetz das Interesse des Einzelnen an freie Entfaltung seiner Persönlichkeit zurück. Mangels einer Wahlmöglichkeit zwischen freiwilliger und Zwangsversicherung werde der Einzelne immer der Sozialversicherungspflicht unterworfen. Dieser Ausschluss selbstverantwortlicher Eigenvorsorge werde nicht schon vom Sozialstaatsprinzip gefordert. Dieses lasse vielmehr für die Verwirklichung des Zieles einer gerechten Sozialordnung auch andere Wege offen. Der Gesetzgeber habe auch die Möglichkeit, die Eigenvorsorge vorzusehen.
Die Aufhebung der Jahresarbeitsverdienstgrenze füge sich in die moderne Gesellschaft- und Sozialpolitik ein. Die Lebenserwartung des Menschen habe beträchtlich zugenommen, das Leben sei an Risiken reicher und ihre Bewältigung zunehmend kostspieliger geworden. Der Vorsorge für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bei Invalidität und des Alters komme damit immer größere Bedeutung zu. Demgegenüber hätten sich die Möglichkeiten und Mittel, die dem Einzelnen zur Verfügung stehen, um den gestiegenen Bedarf aus eigener Kraft zu decken, vergleichsweise ständig vermindert, zumal die Zahl derer, deren einzige Erwerbsquelle ihre Arbeitskraft ist, ständig steige.
Die Sicht des Bundesverfassungsgerichts ist keineswegs rückwärts gewandt; denn der Beschluss des Ersten Senats vom Herbst 1970 erging zu einem Zeitpunkt, als sich schon grundlegende Veränderungen – um nicht zu sagen Verwerfungen – in den gesellschaftlichen Verhältnissen abzuzeichnen begannen. Dem trägt das Bundesverfassungsgericht mit folgenden Erwägungen Rechnung:
“Die gesetzliche Sozialversicherung war mindestens seit 1911 dem Grundsatz nach auf die Einbeziehung aller Angestellten angelegt. Glaubte man damals, auf die Einbeziehung der höher Verdienenden noch verzichten zu können, so hatte das seinen Grund in den sozialen Verhältnissen und den gesellschaftlichen Anschauungen dieser Schicht, die ihr soziales Schutzbedürfnis als gering empfand. Die inzwischen eingetretenen Veränderungen der Lebensverhältnisse und Anschauungen gerade auf diesem Gebiet spiegelt sich in der Einbeziehung immer weiterer Gruppen auch der höher verdienenden Angestellten in die Sozialversicherung wider. Diese Entwicklung hat sich bis weit in die Kreise der wirtschaftlich Selbständigen und der freiberuflich Tätigen hinein fortgesetzt, also bereits eine soziale Gruppe ergriffen, die ihrem Wesen nach auf die Freiheit eigener Lebensplanung in allen Bereichen besonders bedacht ist (Handwerker, Landwirte, ärzte). Der Trend der staatlichen Sozialpolitik weist ebenso in diese Richtung wie Erwägungen der allgemeinen Gesellschaftspolitik; man will erreichen, dass möglichst allen sozialen Schichten des Volkes eine Versorgung gesichert wird, die ihnen ein ausreichendes Maß an Konsumkraft erhält.“
cc. Im Hinblick auf die aktuelle Entwicklung der privaten Altersvorsorge müssen auch die folgenden Erwägungen festgehalten werden (aaO, S. 255):
“Zwar bietet auch die private Lebensversicherung Vorteile, die der gesetzlichen Rentenversicherung fehlen. Dazu gehören etwa die übernahme des Versicherungsschutzes unmittelbar nach Vertragsabschluss, also ohne Wartezeit, die Verdoppelung der Versicherungssumme bei Unfalltod, die ,Unverfallbarkeit‘ der Leistung und die Vererbbarkeit des Kapitals. Sie wiegen aber, im ganzen gesehen, die Vorzüge der gesetzlichen Rentenversicherung nicht auf. Weitere Vorzüge der privaten Lebensversicherung können zudem nur mit Vorbehalt in diesem Zusammenhang genannt werden, weil sie die Dispositionsmöglichkeiten des Versicherten zwar an sich erhöhen, aber gerade dadurch sich für manche Versicherten auch als gefährlich erweisen können, wie die Rückkaufs- und Beleihungsfähigkeit, die Wahlmöglichkeit zwischen Kapital und Rente und die Wahl des ,Ablaufalters‘.“
dd. Weiteren Aufschluss hinsichtlich der inneren Systemgerechtigkeit privater Altersvorsorge im Gesamtsystem der Altersvorsorge in der sozialen Demokratie kann man aus einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Altershilfe für Landwirte im Jahre 1969 gewinnen (BVerfGE 25,314 <322 f.). Hiernach dienen die gesetzlichen Rentenversicherungen in erster Linie dem Schutz der abhängig Beschäftigten und ihrer Angehörigen gegen die Risiken des Verlustes oder der Minderung der Arbeitskraft infolge Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit, Alters oder Todes. Diese Gruppe von Versicherten ist besonders schutzwürdig, weil mit dem Eintritt des Versicherungsfalles das Arbeitseinkommen entfällt und der Lebensunterhalt nicht mehr gesichert ist.
Die Rente hat daher als Vollversorgung den Lebensunterhalt der Hinterbliebenen sicherzustellen. Die aus dem Betrieb ausscheidenden landwirtschaftlichen Unternehmer oder ihre Ehegatten bedürfen dagegen keines so umfassenden Schutzes, weil der Lebensunterhalt, was die Grundbedürfnisse an Wohnung und Nahrung angeht, aufgrund des übergabevertrages, der Veräußerung oder Verpachtung des Betriebs häufig gesichert ist.
…………… Da der Arbeitnehmer in der Regel nicht in der Lage ist, allein für seine Altersversorgung aufzukommen, hat der Gesetzgeber die Rentenversicherungen von Anfang an auf dem Versicherungsgedanken aufgebaut. Die Aufwendungen der Rentenversicherungen müssen daher in der Hauptsache durch die Beitragsleistungen der Versicherten und ihrer Arbeitgeber gedeckt werden. Die Leistungen der Rentenversicherungen sind in ihren Voraussetzungen den verschiedenen Risiken eines Verlustes der Arbeitskraft angepasst und in ihrer Höhe von den Beiträgen abhängig, die der Versicherte und sein Arbeitgeber geleistet haben.
Des Weiteren führt das Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang aus, dass das System der landwirtschaftlichen Altersversorgung, solange die Aufwendungen der Alterskassen im wesentlichen aus den Mitteln des Bundes und nicht aus den Beiträgen der Versicherten gedeckt werden, einen stark fürsorgerischen Charakter erhält, der es rechtfertige, die Ansprüche der Berechtigten an strengere Voraussetzungen zu binden.
cc. Schon damals stellte sich immer wieder die Frage, ob und inwieweit solche Versorgungsansprüche in den Schutzbereich des Eigentums nach Art. 14 Abs. 1 GG fallen.
Das Bundesverfassungsgericht weist insoweit auf seine umfassendere Rechtsprechung bezüglich des Schutzes des Eigentums für öffentlich- rechtliche Vermögenspositionen hin. Solche unterliegen nur dann dem Schutz des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG, wenn sie nicht ausschließlich auf staatlicher Gewährleistung, sondern auf eigener Leistung beruhen (BVerfGE 22, 241 <253>). Dies ist die feste verfassungsrechtliche Grundlage bis heute.
Einen ergänzenden Aspekt bringt BVerfGE 31, 185 <189>. Hiernach darf bei der Beurteilung von Sachverhalten in diesem Bereich keine isolierte Bewertung des umstrittenen Problems vorgenommen werden. Vielmehr ist eine Gesamtbetrachtung geboten. Das führt dazu, dass der Anspruchs- und Leistungsbereich umfassend in den Blick genommen werden muss und dabei aber auch Rahmenbedingungen, die positiv oder negativ wirksam werden, nicht außer acht gelassen werden dürfen.
2. Finanzmarktkrise und Handeln der Europäischen Zentralbank (im folgenden: EZB)
a. Im Gefolge der verheerenden Finanzmarktkrise und schwerster Verwerfungen in einzelnen Mitgliedstaaten der Euro-Zone reagierte die EZB mit verschiedenen Maßnahmen, so dem Ankauf von Staatsanleihen in exorbitanter Höhe wie auch einer Reservepolitik, die ein Inflationsziel von 2 % in der Eurozone verfolgt, allerdings über die Jahre dahingehend wirkte, dass die Sparer auf ihre Einlagen letztlich 0 % Zinsen erhalten und z. B. auch viele Lebensversicherungen und betriebliche Altersversorgungswerke in Existenznöte geraten sind.
Viele Menschen sehen in Spareinlagen wie auch z. B. in festverzinslichen Wertpapieren eine gesicherte und im Sinne der dargestellten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Modellen der Altersversorgung eine ungefährliche, risikolose und gesicherte Anlageform. Sie hatte das Siegel der Seriosität und der Gediegenheit für sich und verdiente deshalb zu Recht mangels unvertretbarer spekulativer Elemente den Schutz der Rechtsordnung in der sozialen Demokratie.
Die EZB hat durch ihre „0-Zins“ – Politik dieser gesicherten Anlageform für einen aus eigener Kraft mit geschaffenen gesicherten Lebensabend der Menschen ein Ende bereitet. Diese Entwicklung und der aktuell erreichte Zustand in diesem Bereich der Finanzwelt bedarf näherer Betrachtung und kritischer Durchleuchtung.
b. Mit diesen und vergleichbaren Anlageformen haben die Menschen in die Zukunft gerichtet eine Anwartschaft aufgebaut, die mit einem definierten Zinssatz ab dem vereinbarten Zeitpunkt regelmäßige und der Höhe nach bestimmbare Geldbeträge abwarfen. Diese Anwartschaft ist vernichtet. Materiell liegt in der genannten Politik der EZB ein vollständiger Entzug zulasten der Menschen. Im Gegensatz zur klassischen Enteignung wird der entzogene Gegenstand nicht auf einen – begünstigten – Dritten übertragen. Das ändert aber nichts daran, dass der Eigentumsschutz sich nicht in seiner Gewährleistungsfunktion für einen selbst bestimmten menschenwürdigen Lebensabend Geltung verschaffen kann.
Abgesehen davon wird zudem die der Anwartschaft zu Grunde liegende Substanz – das Anlagevolumen – durch die inzwischen von vielen Instituten für dessen Ingewahrsamnahme erhobenen Negativzinsen oder erhöhten „Bearbeitungskosten“ weiter entwertet.
c. Es ist der Mühe wert, sich darüber Gedanken zu machen, ob der EZB derlei Befugnisse mit solchen Auswirkungen auf die Gesellschaften der Mitgliedstaaten der Euro-Zone und den betroffenen Menschen zustehen. Dafür sehe ich in der Verfassung der EU und im Vertrag über ihre Arbeitsweise keine Grundlage.
Gemäß Art. 127 Abs. 2 AEUV wird zwar als eine der grundlegenden Aufgaben des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) genannt, die Geldpolitik der Union festzulegen und auszuführen. Diese muss sich allerdings im Rahmen der Europäischen Verfassung halten. Eine Beliebigkeit für die Wahl finanzpolitischer Instrumente ist damit nicht gemeint. Keineswegs darf die Finanzpolitik der EZB im Rahmen des ESZB die Grundlagen der Verfassung verlassen und im Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten oder der Organe der EU ausschließlich liegende Befugnisse der Sache nach und diese überspielend an sich ziehen.
So gilt zuvörderst der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten (Art. 4 Abs. 1 EUV). Mit der beschriebenen EZB-Politik wird eine Gesellschaft von der Vermögen- und Einkommensseite her umgestaltet. Hierfür hat die EU keinerlei Zuständigkeit.
Das folgt aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon vom 30. Juni 2009. Hiernach bleibt die Gestaltung der sozialen Lebensverhältnisse den Mitgliedstaaten vorbehalten und das ist für die Bundesrepublik Deutschland als souveränem Mitgliedstaat zur Verfassungsidentität nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG unabdingbar und darf durch Institutionen auf der europäischen Ebene nicht unterlaufen werden (BVerfGE 123, 267 Leitsätze 3 und 4, Einzelheiten S. 343, 344, 347, 349, 352 ff., 359, bes. S. 362 f.).
Nach den aktuell schon erkennbaren Auswirkungen werden viele Bevölkerungskreise geschädigt und von Armut gegenwärtig, aber nachhaltig vor allem im Alter bei geringeren Bezügen aus der gesetzlichen Rentenversicherung bedroht. Nicht von ungefähr wird von staatlicher Seite seit vielen Jahren ein privater Beitrag der künftigen Rentenbezieher angemahnt. Dem gegenüber wird nach der ausgeführten einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Sozialstaatsprinzip in diesem Teilbereich in der Substanz verletzt und damit auch die unantastbare Würde der betroffenen Menschen, die dahinter stehen, missachtet.
Selbst wenn man sich – methodisch verfehlt – gedanklich nur an der Verfassungsebene der EU orientiert, vermag auch dies die EZB-Politik nicht zu stützen. Die Werte der Europäischen Verfassung und damit die Grundlage der von den Mitgliedstaaten gebildeten Wertegemeinschaft wird zerstört. Das gelingt unter dem Siegel des von der EZB gewählten finanzpolitischen Instrumentariums, das unverkennbar allein von ihr in Anspruch genommenen ökonomischen „Wahrheiten“ geprägt ist, denen aber eine Vergewisserung ohnehin – wie häufig in diesem Bereich – fehlt.
So wird schon eingangs der EUV trotz Fehlens einer Zuständigkeit im Rahmen des Sozialstaatsprinzips die Bedeutung der sozialen Aufrechterhaltung der Grundrechte, der Europäischen Sozialcharta und der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 hervorgehoben. Ferner wird etwa in Art. 3 Abs. 3 UnterAbs. 3 EUV der soziale Zusammenhalt wie auch die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten betont. Aufgrund unterschiedlicher Gesellschaftsstrukturen in den einzelnen Mitgliedstaaten und innerhalb einer Gesellschaft eines jeden Mitgliedstaats profitieren von dieser „0- Zins-Politik“ nur sehr kleine und vor allem begüterte Bevölkerungskreise.
d. Die der EZB als solche sachgerecht zuerkannte Unabhängigkeit von Weisungen und jedweden politischen Einflussnahmen bietet ihr kein Schutzschild in dem Sinn, dass sie beliebig finanzpolitische Instrumente wählen könnte, die losgelöst von Rechts- und Sozialstaat und vor allem in Anbetracht des hier festgestellten Ausmaßes dem Demokratieprinzip der EU eine von ihr definierte neue Gestalt verleihen dürfte.
Hier stehen die Europäischen Organe, vor allem aber die Regierungen und Parlamente der Mitgliedstaaten in der Pflicht. Sie hätten schon längst gegensteuern müssen und demgemäß entweder durch Nachverhandlungen der Europäischen Verträge dem Aufgabenbereich der EZB schärfere Konturen und in Bezug auf die Befugnisse Leitplanken aufstellen müssen, die dem Rechtsstaats-, Sozialstaats- und Demokratieprinzip nach den von den Mitgliedstaaten vereinbarten Grundstrukturen gerecht werden.
Eine andere Abhilfe kann von jedem Mitgliedstaat der Gestalt geschaffen werden, dass er national Modelle anbietet, die dem Sozialstaatsprinzip und – für Deutschland – den Anforderungen gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gerecht werden. Hierzu komme ich abschließend unter IV.
3. Die Politik der „Schwarzen 0“ in Deutschland
a. Für die private Altersvorsorge ist die unreflektierte Finanzpolitik der „Schwarzen 0“, der seit einigen Jahren in Deutschland gehuldigt wird, eine weitere Belastung und ein gravierendes Hindernis.
Die hierdurch hervorgerufenen Fehlentwicklungen im Infrastrukturbereich sind eingangs dargestellt. Für das Thema allerdings bringt die Betrachtung des Sekundärbereichs der „Schwarzen 0“ hilfreiche Erkenntnisse für Abhilfemöglichkeiten der vorstehend kritisierten Finanzpolitik der EZB. Beide wirken verhängnisvoll komplementär zusammen und verschärfen die sozialen Fehlentwicklungen. Diese weisen gleichwohl den Weg für sinnvolle Modelle zur Abhilfe des nicht hinnehmbaren Zustands.
Seit langer Zeit hat sich der Arbeitsmarkt – wie geschildert – durch Millionen von prekären Arbeitsverhältnissen grundlegend verändert. Die öffentliche Hand hat als Arbeitgeber hierdurch ebenso profitiert wie andere dem Gemeinwohl verpflichtete Institutionen. Dadurch gingen nicht nur den öffentlichen Kassen und damit den das Gemeinwohl noch stützenden und beachtenden Menschen die Beiträge verloren, die ihnen bei gemeinwohlorientiertem Verhalten im Alter anteilig zur Verfügung stehen würden.
Wenn man etwa die Beschäftigungspolitik des Staates im Bildungsbereich (in einigen Ländern mehr als sozialstaatswidrig) wie auch im Gesundheitsbereich und bei der Polizei betrachtet, wird deutlich, dass der zunehmend und wortreich beklagte Personalmangel hier eine Hauptursache hat; denn der Staat beschädigt jeweils das Ansehen und das Sozialprestige der gesamten Berufsgruppe. Dadurch wird die stützende Struktur innerhalb des Arbeitsmarkts beschädigt und das gilt letztlich für alle privatisierten Bereiche des staatlichen Infrastrukturbereichs.
Zudem verliert der Staat seine Vorbildfunktion im Ausbildungsbereich und die Unsicherheit der Berufsaussichten wegen einer Schwarzen 0 hindert viele junge Menschen, eine für das Gemeinwohl wichtige Berufsentscheidung zu treffen.
In diesem Zusammenhang müssen weitere Akteure in die Pflicht genommen werden. Es muss auch gefragt werden, ob etwa Handwerk und Unternehmen der Wirtschaft in ihren zahlreichen Branchen sich überhaupt noch sinnvoll und zukunftweisend mit der Pflege des Nachwuchses beschäftigt haben oder sich beträchtliche Teile nicht ihrerseits wegen erklecklichen Vorstandsbezügen, Boni und Sharehoulder value aus der Gemeinwohlverantwortung in diesem Bereich abgemeldet haben, zudem der Staat ein – vermutlich ungewolltes – in diese Richtung weisendes Vorbild geboten hat.
b. Abschließend ist es nunmehr möglich, in einem Schlussabschnitt die zahlreichen Beobachtungen, Entwicklungen und Feststellungen ohne Friktionen und Widersprüche zusammenzuführen und daraus ein sachgerechtes, dem Sozialstaatsprinzip und den auf eine private Altersvorsorge angewiesenen Menschen gerecht werdendes Modell zu entwickeln.
IV. Lösungsansätze
1. Nachdem die Problemlage einer privaten Altersvorsorge in der sozialen Demokratie der Gegenwart weit ausgreifend und unter Einbeziehung von Rahmenbedingungen, die in einer Sekundär- oder gar einer Tertiärebene wurzeln, aufbereitet ist, kann man sich sachgerechten Lösungsansätzen zuwenden. Nahe liegend kann es sich nicht um vordergründige oder schlichte Lösungen handeln, die schon eingangs hinsichtlich Reduzierung des Rentenniveaus oder Verlängerung der Lebensarbeitszeit infrage gestellt und als für eine private Altersversorgung nicht hilfreich abgelehnt worden sind. Vielmehr sind verschiedene Linien entsprechend der zu Grunde liegenden Rahmenbedingungen zusammenzuführen.
a. Zunächst liegt es nahe, die Betrachtung noch weit vor die Zeit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu erstrecken. Man sollte nicht so überheblich sein und dem entsprechend gedanklich ansetzen, dass die Problemlage ganz außergewöhnlich ist und noch nie da gewesen sein kann.
Es gibt Bereiche im menschlichen Zusammenleben, in denen in der Gesellschaft Schwache nicht die gleichen Voraussetzungen und die gleichen Chancen für die persönliche Entfaltung wie die überwiegende Mehrheit der Menschen in einem Staat haben. Dieser muss hier in der Gegenwart nach den Vorgaben des Grundgesetzes – konkret nach dem Sozialstaatsprinzip – tätig werden. Für ihn besteht die Pflicht, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen (BVerfGE 59, 231 <263>; s.a. BVerfGE 82, 60 <80>).
Diese Verpflichtung der staatlichen Gewalt war schon in früheren Zeiten bekannt. Hieran ist zu erinnern, damit nicht eine Strömung unreflektiert und einseitig Interessen geleitet für eine Lösung die Oberhand gewinnt.
So hat etwa Solon, der namhafte athenische Gesetzgeber in der Zeit um 600 v. Chr. zur Schlichtung der sozialen und politischen Kämpfe zwischen dem athenischen Adel und den großenteils in Schuldknechtschaft geratenen Bauern stilbildend gewirkt. Er initiierte grundlegende änderungen der Gesellschafts- und Staatsstruktur und wird deshalb zu Recht wegen des erzielten sozialen Ausgleichs als Vater der athenischen Demokratie anerkannt.
Etwa 100 Jahre später trat Perikles in Athen als alleiniger Führer der Demokraten auf. Zur Sicherung der Vollbeschäftigung entwickelte er ein großzügiges Bauprogramm, das aus der Kasse des Attischen Seebundes finanziert wurde.
Diese historischen Vorbilder bieten hervorragende Ansatzpunkte für sinnvolle und den verfassungsrechtlichen Vorgaben der nationalen Ebene der Mitgliedstaaten und der europäischen Ebene gerecht werdende Lösungen. Hingegen vermag ich keinen vor dem verfassungsrechtlichen Hintergrund akzeptablen Lösungsansatz im Hinblick auf eine von Franziska Augstein in ihrer Kolumne vom 3. Januar 2020 (Süddeutsche Zeitung S. 16) wiedergegebene Bemerkung der Bundeskanzlerin erkennen. Hiernach müsse die deutsche Demokratie „marktkonform“ sein. Was dies in der deutschen Wirklichkeit inzwischen bedeutet, listet ein Beitrag in der Süddeutschen Zeitung vom 4. bis 6. Januar 2020 (S. 11) auf.
b. Es muss deshalb ein Modell entwickelt werden, das die beschriebenen Fehlentwicklungen einzufangen vermag und die Rahmenbedingungen über die verschiedenen Ebenen der Arbeitswelt, die berufliche Ausbildung und die schulische Bildung vital stärkt.
Die vormals öffentliche Infrastruktur ist auf allen staatlichen Ebenen wieder in die Obhut des Staates zu nehmen. Die Legitimation ergibt sich nicht allein daraus, dass in Anbetracht der verheerenden Finanzmarktkrise Banken zum Teil vom Staat nicht nur mit erheblichen Mitteln gestützt und substantiell übergeführt werden mussten, sondern dass damit auch die Politikfähigkeit in großem Umfang zurückgewonnen und der nicht zu kontrollierende Einfluss von intransparenten und demokratisch nicht legitimierten Institutionen zurückgedrängt werden kann. Damit könnten die Bundesrepublik Deutschland, die Euro-Staaten wie auch einige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und viele Staaten weltweit mit instabiler Gesellschaft ihre Macht zur Selbstdefinition zurückgewinnen und über stabilisierte Gesellschaften zu einer unangefochtenen Grundlage der rechtsstaatlichen Demokratie zurückkehren.
aa. Die Bereiche der Daseinsvorsorge einschließlich der Straßen wie auch Bahn und Post sind umfassend in staatliche Fonds einzubringen. An diesen werden zu gesetzlich und für immer durch die Verfassung – und damit der kurzatmigen Tagespolitik entzogen – garantierten Erträgnissen Anteilscheine zu einem bestimmten und zu entrichtenden Nennbetrag ausgegeben. Das würde durch den Erwerb der Anteilscheine die öffentlichen Schulden spürbar verringern. Die Fonds verbleiben deshalb mit der Substanz und dem Bestimmungsrecht in öffentlicher Hand und nur der Betrieb darf unter genauer staatlicher Aufsicht privatisiert werden (dergleichen habe ich schon bei der Neugestaltung der Abfallbeseitigung 1975 /1976 auf Landkreisebene erfolgreich für die nachfolgenden Jahrzehnte entwickelt).
Auf diese Weise ist nicht nur die Gestaltungsfähigkeit des Staates und aller seiner Gliederungen in rechtsstaatlich demokratisch legitimierter Form gewährleistet, sondern zugleich sichergestellt, dass für die private Altersvorsorge dauerhafte und werthaltige Anlageobjekte zur Verfügung stehen und die Altersversorgung nicht zum Glücksspiel wird, wie es in den Vereinigten Staaten von Amerika schon im Jahr 2000 infolge des Platzens der New Economy der Fall war und neben den unmittelbar betroffenen Menschen viele Betriebsrentenfonds Not leidend wurden, wie inzwischen auch in Deutschland und anderen Staaten der Europäischen Union.
bb. Zugleich würde der Staat in einem wichtigen Bereich wieder glaubwürdig. Es verfängt nicht, wenn private Altersvorsorge angemahnt wird, der Staat zugleich aber durch die von ihm und von der Gemeinschaftsebene geschaffenen Rahmenbedingungen verhindert, dass für die Zukunft dauerhaft werthaltige Anlageobjekte zur Verfügung stehen. Der Verweis wegen der in Teilen existenzgefährdenden 0-Zinspolitik und der Politik der Schwarzen 0 auf die Anlagemöglichkeit in Aktien für den Aufbau einer privaten Altersvorsorge ist unverantwortlich. Die weltweiten Entwicklungen in Bezug auf Unternehmensverkäufe infolge von Globalisierung und Freihandel wie auch dem rücksichtslosen Agieren von überaus potenten Investmentfonds (möglicherweise mit der Unterstützung ausländischer Staaten) verletzen die Menschen und ihr Vertrauen in den Staat.
2.
a. Nahe liegend muss mit diesem Ansatz einhergehen, dass die Arbeitswelt mit nahezu 8 Millionen prekären Arbeitsverhältnissen so gestaltet wird, dass Millionen Menschen überhaupt in die Lage versetzt werden, teilweise für sich selbst zu sorgen. Allein die Rückgewinnung von schätzungsweise 1,2 Millionen regulären Arbeitsverhältnissen im öffentlichen Bereich könnte durchaus eine Sogwirkung für die Primärebene entfalten. Auf diese Weise könnte der Staat so auch wieder seiner Vorbildfunktion im Ausbildungsbereich gerecht werden und öffentliche Vergaben vernünftig handhaben und damit die mittelständische Wirtschaft, das Handwerk und die Gesellschaft positiv beeinflussen und die Attraktivität für die Facharbeiterberufe erneut entfachen. Die vom Staat bisher gepflegte Entwicklung einschließlich der Schwarzen 0 und Beifall aus Teilen der Wirtschaft, Teilen der Medien und Teilen der Wissenschaft hat den maßgeblichen Grundstein dafür gelegt, dass, anders als propagiert wird, nicht steigende Lebenserwartung und zu kurze Lebensarbeitszeit für das erwartete Desaster verantwortlich sind.
b. Als Ausgangspunkt meiner Überlegungen habe ich § 2 VOB/A gewählt. Mich beschäftigen im vorliegenden Zusammenhang sein Gehalt und die hinter ihm stehenden Gedanken des seinerzeitigen Normgebers und die Gestaltungsmöglichkeiten für den Staat im weitesten Sinne, über die Vergabe von Bauleistungen Politik, vor allem Wirtschaftspolitik, zu betreiben.
So fällt an Satz 1 Nr. 1 der Vorschrift schon einmal auf, dass die Bauleistungen zu angemessenen Preisen zu vergeben sind. Die Angemessenheit der Preise ist aus zwei Blickrichtungen zu würdigen. Aus der Sicht der öffentlichen Hand dürfen die Preise nicht übersetzt sein, weil sie mit dem Geld der Steuerzahler sparsam umgehen muss. Andererseits, das ist die Sicht des Unternehmers wie auch in einem höheren Sinn der öffentlichen Hand, dürfen die Preise nicht so abgewürgt werden, dass Unternehmen nicht mehr auskömmlich und seriös arbeiten können und auf diese Weise ihre Existenz gefährdet wird (Stichwort: „Lopez-Effekt“).
Nr. 3 der Vorschrift kennzeichnet die Eigenschaft der Bauvergabe zweifelsfrei als wirtschaftspolitisches Instrument. Hiernach ist anzustreben, die Aufträge so zu erteilen, dass die ganzjährige Bautätigkeit gefördert wird. Es ist eine idealtypische Vorstellung im Gegensatz zur schwarzen 0 und der eklatanten Vernachlässigung der öffentlichen Infrastruktur der letzten Jahre dergestalt, dass die öffentliche Hand über entsprechende Bauvergaben diesen Sektor über das Jahr stabilisiert und so ganzjährig die bestehenden Arbeitsplätze sichert. So bleiben auch die entsprechenden Berufe für junge Menschen attraktiv und es droht jedenfalls sektoral kein Facharbeitermangel.
c. Hinzukommt, dass sich auch Banken und Versicherungen mit ihren Anlagemöglichkeiten wieder auf festem Boden bewegen könnten und von intransparenten Einflüssen (einschließlich der Ratingagenturen) und Fantasieprodukten weit jenseits der Realwirtschaft unabhängig würden. Nicht übersehen werden darf in diesem Zusammenhang allerdings, dass die Abhängigkeit von den Ratingagenturen der Gesetzgeber geschaffen hat und sich keinesfalls diese ungefragt der ihnen eröffneten Spielwiese bemächtigt hätten, die es ihnen erlaubt, die Staaten „vor sich her zu treiben“.
Dies ist im übrigen ein weiteres Beispiel dafür, dass es häufig an einer Folgenabschätzung von auf der Gemeinschaftsebene geplanten Maßnahmen fehlt – ebenso wie bei den Empfehlungen durch Unternehmensberatungen und ähnlichen Institutionen – und verfassungsrechtliche Anforderungen, wurzelnd im Rechtsstaats-, Sozialstaats- und Demokratieprinzip, ausgeblendet werden, wenn sie einer politischen Idee im Wege stehen. Die Demokratie darf eben gerade nicht marktkonform werden.
d. Schließlich und zuletzt kann mit einem solchen Fonds der Wohnungsnot wirksam begegnet werden und die Krankenfürsorge einschließlich des Pflegebereichs und der Kinderbetreuung stabilisiert und menschenwürdig gestaltet werden. Dadurch würden die Personalnöte abgebaut – wie z.B. im Bildungsbereich -, weil sich die dort Tätigen wieder als Menschen geschätzt und dem entsprechend angemessen finanziell gewürdigt fühlen.
Dr. Siegfried Broß
Dr. h.c. Universitas Islam Indonesia – UII – Yogyakarta
Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D.
Richter am Bundesgerichtshof a.D.
Honorarprofessor an der Universität Freiburg im Breisgau
Ehrenvorsitzender der Deutschen Sektion der Internationalen
Juristenkommission e.V. und der Juristischen Studiengesellschaft
Karlsruhe
Mitglied des Internationalen Beratungskomitees und
Ehrenvorsitzender des Think tank Africacast von CAFRAD
Advisory Board Member Durham Law School – Centre
for Criminal Law & Justice