Maier, Jürgen: Wir sind das Volk? TTIP-Kritik von rechts – einige notwendige Anmerkungen. In: Rundbrief Forum Umwelt & Entwicklung, 2016, Heft 2, S. 24-26. (pdf)
TTIP-Kritik von rechts – einige notwendige Anmerkungen
Der knapp gescheiterte FPÖ-Präsidentschaftskandidat Hofer verkündete, TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership – Transatlantisches Freihandelsabkommen) zu stoppen sei eine seiner Prioritäten. In Frankreich lehnt unter den größeren Parteien allein der Front National TTIP ab. Auch die AfD lässt kein gutes Haar an TTIP. In den USA spricht sich Donald Trump vehement gegen Freihandelsabkommen aller Art aus. Globalisierungskritik von rechts, was ist davon zu halten?
Überall in Europa, in den USA kann man heute links und rechts immer schwerer auseinanderhalten, vor allem wenn es nicht um Werte-Diskussionen geht, sondern um Wirtschafts- und Finanzpolitik. Im Mainstream der Parteien quer durch Europa hat sich in den letzten 20 Jahren die Ideologie der vermeintlichen Alternativlosigkeit neoliberaler, mehr oder weniger marktgläubiger Globalisierung durchgesetzt. Ob rot-grün, schwarz-gelb oder schwarz-rot – in kaum einem Politikbereich waren die Unterschiede des praktischen Regierungshandelns geringer als ausgerechnet in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, eigentlich der Kern von Politik.
Die Konsequenzen sind überall auch ziemlich ähnlich. Profitiert haben von dieser Politik im Wesentlichen die reichsten 10 Prozent, Aktionäre, Spitzenverdiener – der größte Teil der Beschäftigten dagegen musste stagnierende oder zurückgehende Reallöhne hinnehmen. In Deutschland sind mittlerweile ein Drittel in einem Niedriglohnsektor gefangen, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint, in dem die Altersarmut vorprogrammiert ist. Von den katastrophalen Verhältnissen in Griechenland oder Spanien sind die Länder Nordwesteuropas zwar noch weit entfernt, aber eine Insel der Seligen gibt es im Zeitalter der Globalisierung nicht dauerhaft. Frankreich ist bereits auf dem Weg in eine immer tiefere wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise.
Schnauze voll?
Inzwischen haben immer mehr Menschen von solchen Zuständen „die Schnauze voll“. Massendemonstrationen gegen TTIP quer durch Europa, vor allem aber im Lande des Exportweltmeisters Deutschland. Im Mutterland des Neoliberalismus, Großbritannien, knapp an der Abspaltung Schottlands vorbeigeschrammt, hat die Hälfte der Bevölkerung für den Austritt aus der EU gestimmt [Brexit]. In den USA fegt der rechtspopulistische Außenseiter Donald Trump den republikanischen Geldadel in den Vorwahlen von der Bühne, der Sozialist Bernie Sanders bringt die einzig verbliebene Kandidatin des Washingtoner Establishments massiv in Bedrängnis.
Hauptthema der Kampagnen sowohl von Trump als auch Sanders: Weg mit dem Neoliberalismus, weg mit dem „Freihandel“. Bei Österreichs Präsidentenwahl wird das alte Parteisystem in die Wüste geschickt. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die Wahlen in Frankreich im Frühjahr 2017 genauso verlaufen. Das mediale und politische Establishment schaut immer noch wie ein Kaninchen auf die Schlange, schockiert und gleichzeitig fasziniert wie von einem Horrorfilm. Was ist los? Sind die Leute verrückt geworden?
Man kann aber auch überrascht sein, dass es so lange gedauert hat. Eine wirtschafts- und finanzpolitische Ideologie, die so offensichtlich weitaus mehr Verlierer als Gewinner produziert, kann auf Dauer nicht gutgehen, schon gar nicht in Demokratien. Es rächt sich, dass dieses Establishment seit 20 Jahren glaubt, es gebe zur Wirtschafts- und Finanzpolitik des Mainstreams aus konservativen, sozialdemokratischen, liberalen und zunehmend auch grünen Parteien „keine Alternative“. Maggie Thatcher brachte es auf den Punkt: TINA – There Is No Alternative. Wer das verinnerlicht, hat irgendwann auch verlernt, in Alternativen zu denken und über sie zu diskutieren. Im realen Leben gibt es aber immer Alternativen, und die sind jetzt gefragt.
Die Politiker des Mainstreams haben noch nicht einmal verstanden, dass dies dringlich auf der Tagesordnung steht. Vermutlich weil sie viel zu selten aus ihrer Käseglocke herauskommen. Politiker und Journalisten – übrigens auch NGOFunktionäre (Non-Governmental Organisation – Nichtregierungorganisation) – verbringen viel zu viel kostbare Lebenszeit damit, mit ihresgleichen in endlosen Sitzungen zu reden, statt mit normalen Leuten, mit dem Rest der Welt. Wenn man durch das Land fährt, um in Hunderten von Veranstaltungen über TTIP zu diskutieren, lernt man die Stimmung im Volk kennen: Vom Dorf bis zur Großstadt, egal wo, egal wer, das Bild ist weitgehend dasselbe: Die Leute haben die Schnauze voll. Viel gründlicher, als die Wahlergebnisse nahelegen. Über 60 Prozent der EU-Bürger haben laut Umfragen der EU-Kommission kein Vertrauen mehr in ihre Politiker.
Die Bilder ähneln sich, immer wieder: der alte Herr, sein ganzes Berufsleben in leitender Stellung in einem mittelständischen Betrieb, der letzte Woche der CDU die Mitgliedschaft gekündigt hat, wegen TTIP und der Konzern-Schiedsgerichte. Der Bürgermeister, der zusehen muss, wie sein Dorf schrumpft und öffentliche Aufträge an irgendwelche globalisierten Unternehmen vergeben muss statt an darbende örtliche Handwerker – aus seiner Partei ist er längst ausgetreten. Die Angestellte, die seit vielen Jahren das Gefühl hat, immer weniger real zu verdienen, immer mehr arbeiten zu müssen, immer mehr Angst um den Arbeitsplatz zu haben – und sich freut, dass sie immerhin noch zu den wenigen Privilegierten mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag gehört. Der Rentner, dem es Angst macht, dass es heute so viele Bettler und Einbrecher gibt, denn das war früher nicht so. Die Studentin, die vor lauter Leistungsdruck für nichts mehr Zeit hat und dennoch längst den Traum aufgegeben hat, es werde ihr mal bessergehen als den Eltern. Der ratlose SPD-Ortsverein, der sich fragt, was man denn gegen TTIP tun kann und ganz erstaunt daran erinnert wird, man sei doch Regierungspartei. Der fluchende Bauer, der am liebsten mit einer großen Ladung voll Mist nach Berlin oder Brüssel fahren will, weil er vor der Pleite steht. Man spürt eine „Wir sind das Volk“-Stimmung, diffus, auf der Suche, aber mit klarer Tendenz: Es läuft alles in die falsche Richtung, und „Die da oben“ brauchen einen dicken, fetten Denkzettel. Die offene Frage ist allerdings, wie sieht dieser Denkzettel aus. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten.
Rückkehr der sozialen Marktwirtschaft gewünscht
Eigentlich wollen diese Leute keine Revolution, schon gar keine Rechtsradikalen an der Macht, sie suchen auch keine Postwachstums-Visionen aus dem Elfenbeinturm. Sie wollen eigentlich nur die gute alte soziale Marktwirtschaft wiederhaben, nicht einen immer schärferen globalen Konkurrenzkampf aller gegen alle, dem sich alle Lebensbereiche unterzuordnen haben. Sie fühlen sich verspottet von Managern, die einen ganzen Konzern an die Wand fahren, dafür noch Bonuszahlungen kassieren und praktisch keine Steuern zahlen – während man selbst feststellt, die Rente reicht nicht, und die Riester-Rente ist ein Flop. Man hört anerkennende Worte über Kohl, Blüm und Geissler, die im Gegensatz zu allen ihren Nachfolgern noch für einen Ausgleich zwischen oben und unten standen – selbst von Leuten, die nie Kohl gewählt haben. In ihrem kollektiven Glauben an die neoliberale Ideologie hat sich die politische Klasse von weiten Teilen des Volkes entfremdet. Lange Zeit blieb es ein diffuses Unbehagen.
Diffuse Stimmungen können sich lange ausbreiten, aber sie werden erst dann wirksam, wenn das diffuse Unbehagen einen Namen bekommt, sich in einem Begriff symbolisch kristallisiert. Für viele ist dieser Name inzwischen „Flüchtlinge und Islam“. Für andere ist dieser Name „TTIP und Globalisierung“. Für nicht wenige ist es auch beides. Die Grenzen sind dabei durchaus fließend. Welche Tendenz sich durchsetzt, ist eine völlig offene Frage. Man kann es auch drastischer sagen: Die eine ist eine hasserfüllte, destruktive Tendenz – die andere eine demokratische, konstruktive Antwort auf eine abgehobene politische Klasse, die nicht verstehen will oder kann, dass sie ihre Politik radikal korrigieren muss. Im Grunde ist es, wie die Wahl zwischen Trump oder Sanders. Noch vor wenigen Monaten glaubten all die ach so erfahrenen Politikbeobachter, solche Außenseiter hätten sowieso keine Chance. Trump, Podemos, Sanders, Syriza, Stop TTIP, Front National, Cinque Stelle, Brexit – in der Käseglocke kann man all das als Extremismus abtun, wie alle Herausforderungen für den Mainstream. Ob sich der Protest rechts oder links, demokratisch oder autoritär, separatistisch oder anti-EU formiert – das ist offenbar in jedem Land anders. Die Ratlosigkeit der alten Eliten ist aber überall dieselbe. Wer in diesen Auseinandersetzungen tatsächlich Mainstream ist, ist durchaus relativ – in immer mehr Ländern Europas sind beispielsweise die TTIP-Gegner längst Mainstream im Volk und die TTIP-Befürworter eine schrumpfende Minderheit. Wenn der EU-Wirtschaftsministerrat heute noch einstimmig und ohne Widerrede für die alte Freihandelspolitik votiert und seine Entschlossenheit für TTIP und CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement – Umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen) bekundet, wirkt das nur noch wie eine Farce. Wen repräsentiert so ein Ministerrat eigentlich noch? Lange geht das nicht mehr gut. Österreichs neuer Bundeskanzler Kern hat es mit seltener Deutlichkeit ausgesprochen, als er zu seinem Amtsantritt von der letzten Chance gesprochen hat, die die SPÖ und mit ihr zusammen auch die ÖVP in der Großen Koalition noch haben: „Wenn wir die Trendwende nicht schaffen, werden diese Großparteien von der Bildfläche verschwinden. Und das wohl zu Recht.“ Mit anderen Worten: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.
Lange geht das nicht mehr gut
Wer unbeirrt weiter versucht, mit Tricks wie einer „vorläufigen Anwendung“ Freihandelsabkommen wie TTIP oder CETA gegen massive öffentliche Ablehnung durchzudrücken, spielt mit dem Feuer. Genau das brauchen diejenigen, die die politische Klasse für korrupt bis ins Mark, für willfährige Helfershelfer von Konzernen, die die ganze EU für ein unreformierbares, undemokratisches Konstrukt erklären. Die Demokratie muss jetzt beweisen, dass sie nicht nur für die Elite da ist, sondern für alle. Sie muss beweisen, dass sie auch Perspektiven für die Verlierer von 20 Jahren neoliberaler Globalisierung bieten kann. Sie muss beweisen, dass TTIP nicht kommt, wenn die Menschen das – im Gegensatz zur politischen Klasse – nicht wollen. Sie muss beweisen, dass sie einen sich auflösenden gesellschaftlichen Zusammenhalt wiederherstellen kann. Wenn die politische Klasse dies weiter verweigert und verhindert, wird die Antwort des Wahlvolkes diese Demokratie in Frage stellen. Die massive Unzufriedenheit mit der heutigen Politik lässt sich nicht mehr aussitzen oder ausbremsen. Im Grunde müsste die politische Klasse dankbar sein, dass es eine demokratische, friedliche, pluralistische, konstruktive Bewegung gegen TTIP gibt – denn dieses Kürzel TTIP ist längst das Synonym für den Neoliberalismus und die marktradikale Wirtschafts- und Finanzpolitik der letzten 20 Jahre. Nicht diejenigen, die gegen TTIP mobilisieren, machen die Rechtspopulisten hoffähig, sondern diejenigen, die gegen die Mehrheit TTIP und CETA und ihre alte Wirtschafts- und Finanzpolitik weiter durchdrücken wollen. Wer verhindern will, dass antidemokratische, nationalistische, reaktionäre Strömungen aus der massiven Vertrauenskrise der Eliten Europas und Nordamerikas Kapital schlagen oder gar die Macht übernehmen, muss zeigen, dass demokratische Alternativen funktionieren. Dass man mit demokratischen Mitteln für eine andere Wirtschafts- und Handelspolitik sorgen kann, die die Armen wieder reicher und die Reichen wieder ärmer macht, die Zweidrittel-Gesellschaft wieder zu einer Gesellschaft aller macht, dass die Rückkehr zu einer sozialen Marktwirtschaft die Lösung ist und nicht „Ausländer raus“. Große Teile des neoliberalen Projekts der letzten 20 Jahre müssen dafür rückabgewickelt werden. Ob die Parteien, die dieses Projekt durchgesetzt haben, diese Kehrtwende fertigbringen – das ist eine durchaus ergebnisoffene Frage.
Jürgen Maier
Der Autor ist Geschäftsführer des Forum Umwelt und Entwicklung.