Offener Brief an den Tagesspiegel zur Berichterstattung im Fall Gerwald Claus-Brunner

(Berliner Wassertisch, 22. September 2016) Am 20. September 2016 veröffentlichte der Tagesspiegel einen Nachruf auf den Piratenpolitiker Gerwald Claus-Brunner. Der Text wirkte auf uns unangemessen, weil er unserer Ansicht nach auf Kosten des Toten in die politische Meinungsbildung eingriff. Das in einem Nachruf übliche Abwägen des politischen Wirkens und ein neutraler Überblick über die Betätigungsfelder des Politikers wurden nicht gegeben. Wir haben in einem Tweet darauf hingewiesen.* Die online-Ausgabe des Artikels wurde inzwischen vom Tagesspiegel gelöscht.

Leider ist dafür am 21. September ein anderer Artikel erschienen, der gleichermaßen aufgebaut ist („Der Fall Claus-Brunner: Es ging auch um Stalking“ Titel beim Tsp wg. UPDATE inzw. geändert). Verfasst wurde er von drei Autoren. In der heutigen Druckausgabe erschien ein weiterer Artikel, der in die gleiche Richtung geht („Der Fall Claus-Brunner. Vor aller Augen“). Diesmal zeichnen sieben Autoren (!) dafür verantwortlich. Dennoch gehen diese Artikel von falschen Voraussetzungen und fragwürdigen Quellen aus und zeichnen so ein verzerrtes Bild. Unserer Ansicht nach werden dadurch bestimmte politische Intrigen gegen Claus-Brunner fortgesetzt.

Eigentlich wollten wir uns zu der Thematik nicht weiter äußern. Doch denken wir, dass auch beim Tod eines Politikers, der nach jetzigen Erkenntnissen im privaten Bereich schwere Schuld auf sich geladen hat, die üblichen journalistischen Standards eingehalten werden sollten. Dass dies auch in den neuen Artikeln nur bedingt der Fall ist, wird an einem Kernstück des Artikels „Der Fall Claus-Brunner: Es ging auch um Stalking“ deutlich sichtbar.

1.
Zunächst zum Aufbau des Artikels. „Der Fall Claus-Brunner: Es ging auch um Stalking“ besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil werden die neuen makabren Ermittlungsergebnisse und Reaktionen zu der Tat berichtet. Im zweiten Teil werden einige harsche Tweets des Toten zitiert, danach wird eine Rüge der Fraktion gegen ihn angeführt. Die Auflistung kulminiert in dem Verweis auf die Begründung eines Fraktionsausschluss-Verfahrens, das gegen Claus-Brunner eingeleitet wurde (wenn auch letztlich ohne Erfolg).

Im letzten Teil stellen die Autoren die Tat dann mit den politischen Auseinandersetzungen in der Piratenfraktion in Zusammenhang. Dem Leser, solchermaßen unter den Eindruck der Tatbeschreibung gesetzt, präsentieren die Autoren eine aus den Todesfällen extrahierte Erklärung für fraktionsinterne Auseinandersetzungen. Das zugrundeliegende Muster: Die Tat und ihre Vorgeschichte zeigten psychologisch auffällige Begleitumstände. Also seien wohl auch seine politischen Auseinandersetzungen Folgen psychischer Defizite. Tenor:
„Nicht nur Fraktionsmitglieder, sondern auch andere Parlamentarier im Abgeordnetenhaus beschreiben Claus-Brunner als unbeherrscht und unberechenbar.“ oder: „Er galt als eigenwillig, narzisstisch. Einige sagten, er sei ,psychologisch auffällig gewesen‘. Derzeit will sich in der noch verbliebenen Piratenfraktion kaum jemand offen äußern.“

Die Kommentare werden ausschließlich anonym wiedergegeben. Sollte man bei der Tragweite der Behauptungen nicht wenigstens ein oder zwei Quellen namentlich oder eine der ebenfalls vorhandenen Gegenmeinungen zitieren?

Dieses persönliche Charakter-Profil musste schließlich dazu führen – wie die Autoren zu meinen scheinen –, dass Gerwald Claus-Brunner auch in der Fraktion überall aneckte und schließlich sogar ausgeschlossen werden sollte. So weit, so schlüssig?

2.
Leider nicht. Diese Darstellung hat einen erheblichen Fehler. Sie verzerrt das Bild. Sie unterschlägt, dass einerseits Gerwald Claus-Brunner nicht nur und andererseits auch andere erheblich aneckten. Doch wollen wir nur den bedeutendsten Punkt heraus nehmen. Die Auflistung kulminiert in dem Verfahren zum Fraktionsausschluss wegen fraktionsschädigenden Verhaltens. Die Autoren machen diesen Antrag insofern zum Kronzeugen des Artikels für die angebliche ,psychologische Auffälligkeit‘ im politischen Wirken von Claus-Brunner.

Doch spiegelt der Antrag, genauer betrachtet, ein vollkommen anderes Bild wider, als die Journalisten gezeichnet haben. Der Antrag wurde im Januar dieses Jahres wegen fraktionsschädigenden Verhaltens gestellt. Angeblich seien der „Frieden und die Abläufe“ der Piratenfraktion erheblich gestört worden. Da ein Fraktionsausschluss ein gravierendes Instrument ist, das nur selten angewandt wird, müssten dort also sehr gravierende Verstöße benannt sein.

3.
Was findet man dort tatsächlich? Die Anschuldigungen lassen sich in drei Gruppen aufteilen. Sie enthielten erstens Vorwürfe aus dem damals vorvergangenen Jahr; zweitens innerparteiliche Vorgänge der Piratenpartei, die bereits parteiintern abgegolten waren. (Da sie die Partei und nicht die Fraktion betrafen, waren sie für die Fraktion ohnehin nicht relevant. Besonders befremdlich wirkt dieser Vorwurf, weil die sechs Antragsteller allesamt aus der Piratenpartei ausgetreten sind).

Drittens wurden Vorwürfe erhoben, in deren Zentrum der Blog eines Mitglieds der Piratenpartei-Mitglieds und des Berliner Wassertischs stand. Auf dem Blog wird über das Scheitern einer offensichtlichen Denunziation eines Mitarbeiters der Piratenfraktion gegen die Blogbetreiberin berichtet. Zudem hatte sie mit ausführlichen Belegen über die Versuche dieses Mitarbeiters berichtet, mit dubiosen Methoden die juristische Aufarbeitung der Wasser-Privatisierung zu behindern (Gerwald Claus-Brunner trug bekanntlich erfolgreich zur Wasser-Rekommunalisierung bei). Der enge Mitarbeiter von Fraktionschef Martin Delius hatte zwar auf Unterlassung von verschiedenen, angeblich falschen Tatsachenbehauptungen auf dem Blog geklagt. Doch wurde dies vollständig abgewiesen. Das Landgericht Berlin bestätigte stattdessen, dass in der Angelegenheit ein „berechtigtes Berichterstattungsinteresse“ bestehe.

4.
Auf diesen Blog seines Parteimitglieds verwies Claus-Brunner in einem sachlichen Tweet: „Es darf gelesen werden: sigrun-franzen.de Text spricht für sich alleine“. Sein Büro retweetete zudem Tweets in der „Auseinandersetzung“. Deren Wortlaut ist in dem uns vorliegenden Ausschlussantrag jedoch nicht aufgeführt. Der Vorwurf gegen Gerwald Claus-Brunner lautete lapidar: Mit dem Tweet habe er „einen Text über angebliches Fehlverhalten eines Fraktionsmitarbeiters“ verbreitet.

Doch hatte er nicht sogar die Pflicht, auf den Blog hinzuweisen, wenn er ein mögliches Fehlverhalten des Fraktionsmitarbeiters enthielt? Zumal dann, wenn ein Landgericht der Ansicht war, dass die Einwendungen des Mitarbeiters gegenstandslos waren? Schließlich war die Angelegenheit nicht unerheblich. Hatten nicht auch die anderen Abgeordneten die Pflicht, sich um die Angelegenheit zu kümmern, wenn das Landgericht das Vorhandensein ausreichend „zutreffender Anknüpfungstatsachen“ feststellte? Kann man in diesem Fall noch lapidar von „Verschwörungstheorien“ sprechen, wie der Tagesspiegel in dem Artikel „Vor aller Augen“ durch anonyme Quellen kolportiert? Zuvor hatte sich bereits die Piratenpartei für die falschen Anschuldigungen gegen die Betreiberin des Blogs öffentlich entschuldigt. Mittlerweile wurde seine Wasserberichterstattung vom Presserat gerügt (Verschleierung einer möglichen Befangenheit). Partei, Landgericht, Presserat – drei unabhängige Prüfinstitutionen, bei denen der Fraktionsmitarbeiter mit seinen Darstellungen gescheitert ist – nur in der Fraktion will niemand Auffälligkeiten bei ihm für möglich gehalten haben?

Bei der auf dem Blog des Piratenmitglieds mit abgehandelten juristischen Aufarbeitung der Wasser-Privatisierung machten auch vier der Antragsteller (Delius, Herberg, Höfinghoff, Weiß) keine gute Figur. Genau genommen wurde bei dem Antrag also weniger über ,psychologisch-auffällige‘ Tweets Gerwald Claus-Brunners, sondern über die juristische Aufarbeitung der Wasserprivatisierung seitens der Piraten und Ex-Piratenfraktionäre abgestimmt. Entschieden haben mehrere Abgeordnete, die in der Sache persönlich befangen waren, weil Teile ihrer politischen Arbeit somit Gegenstand der Abstimmung waren.

Bezeichnend war das Ergebnis. Während alle Ex-Piraten für den Ausschluss stimmten, sah es bei den Parteimitgliedern der Fraktion anders aus. Lediglich ein Mitglied der Piratenpartei, das nicht befangen war, hat dem Antrag zugestimmt (das Noch-Piratenmitglied Fabio Reinhardt war wegen des Blogthemas ebenfalls befangen). Die übrigen sechs, also mindestens eine Dreiviertelmehrheit der verbliebenen Piraten, hat den Ausschluss nicht unterstützt.

5.
Noch bizarrer wird der Antrag jedoch, wenn man seinen Zeitpunkt in die Betrachtung einbezieht. Der Antrag wurde im Januar dieses Jahres gestellt. Zu dieser Zeit war man schon über und unter Deck fleißig dabei, das Piraten-Fraktionsschiff zu demontieren. Besonders aktiv waren wiederum einige der Antragsteller. Im Hinterzimmer liefen bereits die Verhandlungen von drei Piraten-Abgeordneten (Delius, Höfinghoff, Weiß) und mehreren Fraktionsmitarbeitern (u.a. die beiden Fraktionsmitarbeiter, um die es in dem Antrag ging) mit dem Linken-Parteichef Klaus Lederer (die Ankündigung erfolgte mit einem großen Interview im Tagesspiegel). Auch öffentliche Äußerungen von Delius, dass die Piratenpartei mit allen Mitgliedern und Abgeordneten bereits „untergegangen“ sei oder Wahlempfehlungen von Lauer (beides Antragsteller), der von einer Wahl der Piraten abriet, zeugten nicht unbedingt von dem Anspruch, ,Frieden‘ in der Piratenfraktion zu stiften. Kamen die anonymen Kommentare der Abgeordneten, die der Tagesspiegel zu Gerwald Claus-Brunner zitiert, möglicherweise von seinen politischen Gegnern? Wir wissen es nicht, da der Tagesspiegel die Personen nicht benannt hat.

6.
In dem Artikel „Vor aller Augen“ von heute wird dann doch einmal eine Quelle namentlich zitiert: der ehemalige Fraktionsmitarbeiter Stephan Urbach. Urbach war nicht nur ein erklärter Gegner von Claus-Brunner, wie er selbst sagt, sondern zudem auch ein enger politischer Mitstreiter von Benedict Ugarte Chacón, der im Zentrum dieser Affäre steht. Stephan Urbach hat zusammen mit ihm eine zeitlang den Podcast „Demokratiegrantler.im“ betrieben. Auch zu dem Ausschluss-Antrag hatte er sich mit einem Tweet zu Wort gemeldet. Wir wollen ihn hier zitieren, da er ganz gut die Stimmung vermittelt, die in der Fraktion bisweilen herrschte:
„Schade, dass 5 der 15 Piraten nicht in der Lage waren, Arschlöcher aus ihren Reihen zu tilgen“. – ,tilgen‘? – Ist das nicht eher „Nazi-Vokabular“, oder zumindest „Hate-Speech“? Der promovierte Politologe Ugarte Chacón war indessen nicht irritiert und hat auf diesen Tweet munter geantwortet. So geht wohl Mobbing.

Gerwald Claus-Brunner hatte nach unseren Informationen gegen Urbach wegen dieses Tweets Anzeige erstattet. Der Tagesspiegel lässt also in seinem Artikel einen Prozessgegner des Toten zu Wort kommen. Dieser nutzt die Gelegenheit, dass sich niemand mehr mit einer Gegendarstellung zu Wort melden kann und erteilt sich selbst die maximale Absolution. Diese Informationen über ihre einzige namentlich genannte Quelle Stephan Urbach haben uns die sieben Autoren des Tagesspiegels leider vorenthalten.

7.
Aber zurück zu unserem eigentlichen Thema. Auch die ,Schlussszene‘ der Fraktion zeugt nicht von übertriebenem Friedenswillen in der Fraktion von Claus-Brunners Gegenspielern in der Fraktion. Am Wahltag, als die Piraten aus dem Abgeordnetenhaus flogen, baten einige Mitarbeiter Christopher Lauer, ein Jubelfoto von ihnen zu twittern. Der Text: „[…] Man freut. #abgewählt“. Einer von ihnen war wiederum der Mitarbeiter, der bei dem Fraktionsausschluss-Verfahren wegen fraktionsschädigenden Verhaltens eine zentrale Rolle spielte. Wenn man seinen Arbeitgeber nicht leiden kann, ist das eine Sache – aber zeugt es von großem Friedenswillen, wenn man die übrige Fraktion in der Stunde der Niederlage auch noch verhöhnt?

Ist es wirklich glaubhaft, dass es den Abgeordneten und Mitarbeitern mit dem Ausschluss-Antrag gegen Gerwald Claus-Brunner um den „Frieden“ in der Piratenfraktion ging? Wegen eines sachlichen Verweises auf den gerichtlich überprüften Blog zur Wasser-Privatisierung eines Piratenmitglieds? War es nicht eher der Versuch einiger der Antragsteller, die eigene politische Arbeit zu rechtfertigen und gleichzeitig der ungeliebten Fraktion zusätzlichen Schaden zuzufügen?

8.
Tatsache ist, dass diese Leute mit diesem Ausschlussantrag negative Schlagzeilen für die Partei und die Fraktion produzierten. Unter anderem durch die Berichterstattung im Tagesspiegel. Tatsache ist aber auch, dass sie damit ihren Fraktionskollegen Gerwald Claus-Brunner öffentlich vorgeführt und persönlich stark getroffen haben. Einen Einblick in den begleitenden Twitter-Shitstorm gab der Tweet von Stephan Urbach. Welchen Psychostress ein solcher Vorgang bei dem Betroffenen auslöst, kann man sich kaum vorstellen. Wir würden dieses Vorgehen als politisch motiviertes Mobbing bezeichnen. Es war nicht der einzige Vorfall, der unter diese Rubrik fällt.

9.
Die Journalisten werten den Ausschlussantrag als Beleg für ein besonderes psychisches Defizit Gerwald Claus-Brunners. Doch handelt es sich bei diesem für ihre Argumentation besonders wichtigen Punkt um eine simple politische Intrige. Vielleicht geben der Antrag und die Begleitumstände Anlass dazu, über „psychologische Auffälligkeiten“ bei einigen der Beteiligten nachzudenken. Möglicherweise war Claus-Brunner bereits zu diesem Zeitpunkt mental angeschlagen. Das wissen wir nicht. Nur: Wer diesen Antrag als Hauptbeleg für eine vermeintliche grundsätzliche Unzurechnungsfähigkeit für ihn verwendet, setzt unserer Ansicht nach eine Parteiintrige fort.

Diese Zeilen sollen Gerwald Claus-Brunner nicht zum Heiligen stilisieren. Die Umstände seines Todes und der weiteren Person haben uns in mehr als einer Hinsicht erschüttert und sind nicht zu entschuldigen. Aber es ist offensichtlich, dass hier ein Mensch im Ausnahmezustand gehandelt hat. Den Versuch, ausgehend von dieser Tat aus sein gesamtes politisches Wirken zu diskreditieren und zu pathologisieren, betrachten wir – gelinde ausgedrückt – als Fehlgriff.

Wir möchten die Redaktion des Tagesspiegels höflichst bitten, dies bei ihrer weiteren Berichterstattung zu berücksichtigen.

* Wir haben am 20. September versehentlich auf einen falschen Tagesspiegel-Artikel verlinkt und dies, nachdem wir es gemerkt haben, mit einem Zusatztweet korrigiert.

 

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