Bebauung Tempelhofer Feld. Berliner Senat startet Frontalangriff auf Direkte Demokratie

Lorenz Maroldt, Chefredakteur des Tagesspiegel, im Kommentar auf radioeins am 24.11.2015 zur geplanten Änderung des Gesetzes zum Tempelhofer Feld:

Frage radioeins:
Das Tempelhofer Feld nicht zu bebauen – können wir uns diesen Luxus überhaupt leisten?

Lorenz Maroldt:
Ich glaube, das müssen wir nicht. Im Gegenteil, wir müssen uns den Luxus wirklich extra leisten, und zwar den, demokratische Entscheidungen, die man nicht handstreichartig über den Haufen werfen kann, und wir sollten auch nicht leichtfertig auf den vermeintlichen Luxus verzichten und uns in einer immer dichteren, volleren Stadt die Luft zum Atmen, die Luft zum Leben noch zu leisten – also, wenn das nicht mehr geht, ist auch der Rest nicht mehr viel wert. Wenn das feststeht – als Grundvoraussetzung – dann, dann können wir in der Tat darüber diskutieren, ob und wann demokratische Entscheidung ebenso demokratisch kassiert und geändert wird – das ist ja absolut in Ordnung im Prinzip – wenn’s eine neue Mehrheit gibt, wenn es neue Erkenntnisse gibt – jedes Gesetz kann auch wieder geändert werden – aber wir könnten auch darüber diskutieren, ob mit dem teilbebauten Tempelhofer Feld noch genug Luft zum Leben bleibt, also, wenn am Rand was dazukommt. Übrigens – wem Tempelhof groß vorkommt – der Central Park in New York der ist deutlich größer – ja auch ein bisschen schöner – aber, es muss einem auch wirklich klar sein, wenn das Bebauungsverbot fällt, warum auch immer, da gibt’s dann nichts mehr zurückzuholen – was da weg ist, was da bebaut wird, ist für immer weg, egal wie voll die Stadt noch wird, egal wieviel mehr Menschen sich nach einer Oase zur Erholung in ihrer Stadt sehnen.

Aber leider, leider muss man eben auch sagen, wir können das eigentlich gar nicht unbefangen diskutieren, weil der Senat von Anfang an jedes Misstrauen in dieser Angelegenheit verdient hat. Damals vor dem Volksentscheid, als die Baupläne vorsätzlich verniedlicht wurden, und heute, da wieder nur scheibchenweise kommuniziert wird, was sie nun eigentlich vorhaben – ja – da wird jede Woche ein bisschen – Czaja hat ja bei Euch eben auch nur von den Hangars gesprochen – es geht längst um eine Randbebauung am Tempelhofer Damm, aber jetzt eben auch auf der Neuköllner Seite – und deswegen ist es eben auch nicht glaubwürdig, wenn sie sagen, das sind nur temporäre Bauten bis 2019.

Also nochmals: Man muss darüber eigentlich sprechen können – dürfen sowieso –, aber es lässt sich eben nicht unbefangen diskutieren, weil der Senat eben auch auf eine wirklich unanständige Art und Weise hier vermeintliche Gegensätze konstruiert: Nämlich hier der erbarmungslose Egoismus von ein paar Kitern und Kreuzberg-Freaks, dort die wohltätige humanitäre Flüchtlingshilfe des Senats – und das Perfide daran ist ja – das soll ja vom unfassbaren Versagen des Senats ablenken, wenigstens halbwegs menschliche Zustände bei der Flüchtlingsaufnahme zu organisieren – so nach dem Motto: „Wir hätten ja alles längst im Griff, wenn uns nicht diese egoistischen Traumtänzer im Weg stehen würden.“ Dabei weiß jeder: Tempelhof ist nun wirklich nicht der einzige Platz, der in Berlin noch zur Verfügung steht, und viele der Tempelhof-Freunde haben außerdem mit ihrer ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe dem komplett überforderten Senat bei der Vollkatastrophe noch geholfen – die haben sie ihm erspart.

Wenn das wirklich alles vom Senat ernst und ehrlich gemeint ist – von beiden Parteien, SPD und CDU – warum hat dann die SPD in ihrer Mitgliedsabstimmung nicht wenigstens eine ihrer zwölf Fragen zu Tempelhof gestellt? Wenn das wirklich so wichtig ist – warum spielt das bisher keine Rolle für die Wahlprogramme 2016?

Ich hab‘ den Eindruck, weil’s nun schnell über die Bühne gehen soll und der Wind gerade günstig steht. Und deswegen leiste ich mir den Luxus: Ich bin da extrem misstrauisch.“

Zum Beitrag auf Youtube
Berichterstattung über die Kundgebung: Julian Graeber: Änderung von Tempelhof-Gesetz. Dr. Motte: „Da wird Demokratievernichtung durchgewinkt“. In: Tagesspiegel, 26.11.2014.

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