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Schlagwort-Archive: Bundesverfassungsgericht
Siegfried Broß: Herrschaft des (Verfassungs) Rechts – 70 Jahre Bundesverfassungsgericht
Vortrag anlässlich des jährlichen Amts- und Landrichtertags in Rheinland-Pfalz am 14. Juli 2022 in Trier
I. Einführung
- Meine nachfolgenden Ausführungen beruhen auf meiner jahrzehntelangen beruflichen und wissenschaftlichen Erfahrung, vor allem aber auch auf meinen über 50 Auslandsdienstreisen seit dem Jahr 2000 in mehr als 20 Staaten im Zusammenhang mit der Entwicklung rechtsstaatlich-demokratischer Kulturen einschließlich des arabischen Frühlings in neuerer Zeit. Der nachfolgende Text speist sich aus vielen Vorträgen, zahlreichen Gastvorlesungen und Beiträgen in Festschriften. Ich verzichte auf Nachweise im einzelnen, interessierten Lesern des geschriebenen Textes erschließt sich mein Gedankengerüst ohne Schwierigkeiten aus zahlreichen Beiträgen im Broß-Archiv des Bayerischen AnwaltVerbandes, in den Jahren nach 1998 in PDF-Form, frühere sind mit der Fundstelle nachgewiesen.
- Die Sicht auf 70 Jahre Bundesverfassungsgericht wird aufgehellt und klarer, wenn man nicht nur eine Betrachtung von innen heraus anlegt – was mich betrifft seit meiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter 1977-1979 und folgend durch wissenschaftliche Beiträge bis zum Jahr 1998 mit einem Neubeginn von innen heraus. Die durch die genannten Auslandsdienstreisen und im Inland durch Unterricht ausländischer Stipendiaten z.B. an der Hochschule Speyer und an der Universität München wie auch den Gesprächen mit zahlreichen hochrangigen Besuchergruppen aus weiteren etwa 20 Ländern gewonnenen Erfahrungen, trüben zwar nicht das Bild des Bundesverfassungsgerichts nach außen, zwingen allerdings zu einer differenzierteren und gelasseneren Betrachtung.
a. Eine seriöse Beurteilung einer 70-jährigen Entwicklung bei der damals bestehenden Ausgangslage – Entstehung gleichsam aus dem Nichts – ist nur möglich, wenn man sich Gedanken abstrakt über die Stellung eines Verfassungsgerichts in der rechtsstaatlich-demokratischen Organisationsform eines Staatswesens macht.
Legt man sich die Frage vor, welche Bedeutung ein Verfassungsgericht für einen modernen demokratischen Rechtsstaat hat, ist es für eine angemessene Antwort unumgänglich, zunächst die bestehende Ausgangslage und die Rahmenbedingungen festzustellen und im Einzelnen zu analysieren. Es ist strukturell und denkgesetzlich ausgeschlossen, dass man sofort und ohne nähere Untersuchung der Ausgangslage vorschnell zu der Antwort kommen könnte, für ein Staatswesen sei ein Verfassungsgericht unumgänglich oder aber, es bedürfe eines solchen nicht. Selbst wenn man die Frage dahingehend beantworten würde, dass ein Verfassungsgericht eingerichtet werden soll, würde das noch nicht zugleich überzeugend die weitere Frage beantworten, mit welchen Befugnissen und mit welcher Macht es ausgestattet werden soll. Redlicherweise muss man einräumen, dass auch bei Fehlen eines Verfassungsgerichts man nicht von vornherein davon sprechen dürfte, dass wir es nicht mit einem modernen demokratischen Rechtsstaat zu tun haben. Gleichwohl ist ein Verfassungsgericht für einen modernen demokratischen Rechtsstaat jedenfalls dann unumgänglich, wenn die demokratische rechtsstaatliche Tradition lediglich eine kurze Zeitspanne umfasst und nicht wie etwa in Großbritannien oder Frankreich wie auch in den Vereinigten Staaten von Amerika eine jahrhundertelange Entwicklung durchgemacht hat und dem entsprechend auf einer profunden Erfahrung aufbauen kann.
Die Entscheidung eines Staates, ob man neben der Gewaltenteilung und der Aufgliederung der staatlichen Gewalt auf voneinander unabhängige und somit auf derselben Ebene angeordneten staatlichen Gewalten ein Verfassungsgericht vorsieht, kann nicht allein von der staatlichen Ebene her betrachtet werden. Man muß immer auch die Menschen mit in die Überlegung einbeziehen und sie auf die Reise in einen anderen Staat und in eine andere Zukunft mitnehmen. Das ist von allergrößter Bedeutung, weil sie keine Erfahrung in dieser Hinsicht haben: Sie haben in der Regel über Jahrzehnte eine andere staatliche Gewalt und damit auch eine andere Gesellschaft mit völlig anderen Erscheinungsformen erlebt. Die sich stellende Frage lautet schlicht, obwohl sie von ungeheurem ideellem Gewicht ist, wie kann man die Menschen für die andere Zukunft gewinnen und welche Voraussetzungen muß man in der Gegenwart schaffen, damit die Menschen bereit sind, diesen Weg auch mitzugehen und ihn darüber hinaus positiv zu gestalten.
Wenn ein Staatswesen strukturell grundlegend umgestaltet wird, fragen sich die Menschen auf Grund ihrer in der Regel jahrzehntelangen Erfahrung mit den vorhergehenden staatlichen Strukturen, ist es nur die alte Staatsform in einem neuen Gewande, das heißt mit einem neuen Namen oder aber, haben sich die Verhältnisse grundlegend geändert. Nur dann werden sich die Menschen in dem neuen Staatswesen und für die Zukunft aufgehoben fühlen. Man muss von der rechtstechnischen Seite und den Fragen, wie man die neue Staatsform und das Verhältnis der Staatsorgane zueinander gestaltet, die Sicht und das Empfinden der Menschen trennen. Der Mensch, jeder Mensch, ist zunächst und zuvörderst kleinräumig geprägt und orientiert. Das heißt, der Mensch denkt nicht bezüglich der ihn tagtäglich bedrängenden Fragen und Sorgen großräumig, strategisch weit ausgreifend, über jahrzehntelange Zusammenhänge hinaus. Jeder Einzelne möchte wissen, was erwartet mich Morgen, Übermorgen und in den nächsten Wochen und Monaten. Der Mensch ist endlich und je nach dem erreichten Alter ist seine Dauer auf dieser Welt überschaubar.
Mit diesem Bewusstsein muß man sich auseinander setzen, wenn man darüber nachdenkt, wie man die Staatsorganisation gestaltet. Haben die Menschen in einem Staatswesen bedrückende Erfahrungen gemacht und sich, gegebenenfalls nur beschränkt, frei entfalten können, muß man dem Rechnung tragen. Man muß überlegen, dass es möglicherweise die Menschen verunsichert, wenn sie den gleichen Staatsorganen, die sie in einer bedrückenden Phase ihrer Existenz erlebt haben, nunmehr wieder begegnen, wenn auch in einem neuen Gewand oder unter einem neuen Namen. Solche aus der Sicht der Menschen möglicherweise eher kosmetische Korrekturen dürften vermutlich nicht ausreichen, sie für die Reise in die Zukunft mitzunehmen und ihre Herzen für einen neuen Staat zu gewinnen.
Vor diesem Hintergrund drängt sich geradezu die Überlegung auf, ob man die auch bisher schon bestandenen und den Menschen vermutlich nicht vertrauten, aber stetig begegnenden staatlichen Institutionen um eine weitere ergänzen möchte. Eine solche Institution kann man sich sicherlich in verschiedenen Gewändern vorstellen. Allerdings liegt im modernen demokratischen Rechtsstaat die Einrichtung eines Verfassungsgerichts unter diesem Gesichtspunkt nahe.
b. Aus der Sicht der Menschen in einem Staat bedeutet es eine Stärkung der staatlichen Gewalten, wenn diese sich der Kontrolle und letztlich der Auseinandersetzung im Diskurs mit einem Verfassungsgericht der zuvor beschriebenen Art stellen. Unabhängig von den Erfahrungen der Vergangenheit kann niemand bei der Einrichtung einer solchen staatlichen Institution darüber hinwegsehen, dass sich Grundlegendes geändert hat. Die obersten Staatsorgane und damit die gesamte staatliche Gewalt wird transparent, für die Menschen fassbar. Dafür ist aber erforderlich, dass die Menschen auch einen Zugang zu diesem Verfassungsgericht erhalten. Ergänzend muß man ferner auch anerkennen, dass in der Demokratie zwar der Mensch im Mittelpunkt steht und über die Teilnahme an den Wahlen direkt auf die Staatsgeschäfte Einfluß nehmen kann, in dem er die grundlegende Staatsgewalt, das Parlament, turnusmäßig in seiner Zusammensetzung mitgestaltet. Gleichwohl bleibt ein Defizit.
Die Einrichtung eines Verfassungsgerichts und die entsprechende Ausgestaltung des Zugangs der Menschen zu diesem ist sonach vorzüglich geeignet, einen Ausgleich für das Fehlen plebiszitärer Elemente in einem modernen demokratischen Rechtsstaat – mit entsprechend großer Einwohnerzahl – zu schaffen. Ein Verfassungsgericht hat insoweit eine überaus bedeutende Ventilfunktion, in anderem Zusammenhang auch eine Beobachtungsfunktion.
Ein Verfassungsgericht in dem hier verstandenen Sinn stört die anderen obersten Staatsorgane nicht, untergräbt auch nicht deren Ansehen oder Substanz, sondern ist – wohlverstanden und entsprechend ausgestattet – eher geeignet, die einzelnen Staatsorgane zu stärken, in ihrer Arbeit zu unterstützen und die Menschen für den modernen demokratischen Rechtsstaat zu gewinnen.
II. Einzelheiten
1a. Solche o. ä. Gedanken dürften bei der Ausgestaltung der rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung und Organisation der Bundesrepublik Deutschland eine Rolle gespielt haben. Das Bundesverfassungsgericht wurde damals nicht lediglich als Staatsgerichtshof zur Schlichtung von Meinungsverschiedenheiten – gleichsam als Schiedsgericht zur Verhinderung von Blockaden der obersten Staatsorgane –, wie zum Teil über längere Zeit auf Länderebene ausgestaltet, sondern – und das war das neue, nahezu revolutionäre an dieser Institution –, ein Zufluchtsort für die Menschen und darin liegt der große vorbildliche Wurf. Es verwundert nicht, dass immer wieder im Falle von Fehlleistungen nachteilig Betroffene im politischen Bereich irritiert waren (z.B. der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer in Reaktion auf die Entscheidung zur Deutschland-Fernsehen GmbH, BVerfGE 12, 205) und dieses neuartige Staatsorgan – eher vom Zivilrecht her bekannt – als „aufgedrängte Bereicherung“ betrachteten. Dieses Empfinden kann man bis heute nicht der Vergangenheit überantworten. Die Bewusstseinsbildung im Allgemeinen wie im Besonderen macht einen Entwicklungsprozess fortlaufend und ohne genaue Zieldefinition durch. So muss es z.B. nachdenklich stimmen, wenn hochqualifizierte für eine Tätigkeit als Mitglied des Bundesverfassungsgerichts in Betracht kommende Personen wegen „zu großer Grundrechtslastigkeit“ von vornherein von Auswahlverfahren ferngehalten werden.
b. Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes im Jahre 1949 und dem Auftreten einer neuen staatlichen Institution in Gestalt des Bundesverfassungsgerichts wurde ein Defizit des geschriebenen Textes offenkundig: Es fehlte eine Standortbestimmung und Konturierung des Bundesverfassungsgerichts gegenüber den Staats- und Rechtsprechungsorganen auf der Bundes- und Länderebene. Schon allein aus Gründen der Rechtssicherheit und der Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns in der rechtsstaatlich-demokratischen neuen Staatsform bestand akuter Handlungsbedarf.
Ein solcher ergab sich – in der allgemeinen Diskussion völlig übersehen – schon daraus, dass in Art. 95 Abs. 1 des Grundgesetzes in der Fassung von 1949 ein oberstes Bundesgericht vorgesehen war. Nachdem damals noch nicht alle obersten Bundesgerichte existent waren, konnte dieses ohne gedankliche Klimmzüge als allen damals im Grundgesetz vorgesehenen Obersten Bundesgerichten übergeordnet betrachtet werden. Es hat allerdings nie eine Bedeutung erlangt und wurde durch das 16. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 18.6.1968 (BGBl I S. 657) abgeschafft und durch den Gemeinsamen Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes ersetzt. Durch diese Grundgesetz-Änderung wurde spätestens die Stellung des Bundesverfassungsgerichts auf der Staatsorganisationsebene bestätigt.
c. Wegen der unübersichtlichen Verfassungsrechtslage innerhalb des Justizsystems und im besonderen für das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht zu den obersten Bundesorganen war es unabdingbar, eine eindeutige Definition der Position und Standortbestimmung des Bundesverfassungsgerichts vorzunehmen. Herr Wefing hat die diesbezügliche „Statusdenkschrift“ gründlich behandelt. Hierzu bedarf es noch einiger Anmerkungen und Klarstellungen.
Es ging vor dem aufgezeigten Hintergrund in der Sache nicht um Machtfragen oder eine Selbstermächtigung des Bundesverfassungsgerichts. So könnte man die anspruchsvollen Formulierungen verstehen; sie tragen allerdings nicht zur Klärung dieser Fragestellung bei. Vielmehr erschließt sich die Stellung des Bundesverfassungsgerichts aus den enumerativ benannten Zuständigkeiten und dem Numerus clausus der tauglichen Antragsteller für seine Anrufung. Das Bundesverfassungsgericht kann also nicht von sich aus von Amts wegen tätig werden und sich in das politische Geschehen einschalten, auch nicht aufgrund einer (ohnehin fehlenden) Generalklausel. Die begrenzte Zahl der tauglichen Antragsteller gerade in Staatsorganisationsstreitigkeiten zeigt, dass die demokratisch berufenen politischen Akteure „schwächeln“ oder schlicht versagen, wenn sie das Bundesverfassungsgericht anrufen. Von einer Selbstermächtigung kann deshalb keine Rede sein. Vielmehr wird das Bundesverfassungsgericht (neudeutsch) „eingehegt“ durch die genau definierten Zuständigkeiten und die begrenzte Zahl der tauglichen Antragsteller.
Das ist im Übrigen auch eine Ausprägung der Prinzipien von Rechtsstaat und Demokratie: Werden die insoweit legitimierten politischen Kräfte ihrer Verantwortung gegenüber den Menschen und der Staatengemeinschaft gerecht, „kommt das Bundesverfassungsgericht überhaupt nicht ins Spiel“. Es unterliegt also keiner Kontrolle durch ein anderes Staatsorgan, sondern wird durch diese Planken von der Verfassung selbst kontrolliert.
d. Neben diesen damals übersehenen Zusammenhängen wurde häufig die beanspruchte Aufwertung zum oberste Staats- und Verfassungsorgan als Anmaßung empfunden. Eine solche Betrachtung ist unbedarft. Der Kontrolleur oberster Staatsorgane hat zwangsläufig an deren Stellung in der rechtsstaatlich-demokratischen Staatsform Teil. Dieser Irrweg wird allerdings seit vielen Jahren an der Unterwerfung von Staaten unter private Schiedsgerichte bei Freihandelsverträgen deutlich und unreflektiert trotz eindeutiger Verfassungsrechtslage verteidigt und unverständlich von der Politik und den zuständigen Staatsorganen weiter verfolgt.
Was die Selbstermächtigung durch ein Gericht betrifft, kann ich mir einen Seitenhieb auf den Europäischen Gerichtshof nicht verkneifen. Er hat in der Rechtssache Costa/Enel im Jahre 1964 ordnungsgemäß den Anwendungsvorrang des europäischen Rechts vor nationalem Recht entwickelt. Wiederholt und bekräftigt 1971 in der Rechtssache Handelsgesellschaft. Darauf komme ich nachfolgend noch einmal zurück. Allerdings geriet er dann in eine Schieflage durch die Bezeichnung des EuGH als „Motor der Integration“. Darin liegt die Verkennung der Funktion eines Gerichts im rechtsstaatlich-demokratischen Staatswesen. Es hat zu kontrollieren, darf aber nicht gestalten. Insoweit fehlt es ihm an der demokratischen Legitimation und darin liegt die „Selbstermächtigung“.
e. 70 Jahre sind eine lange Zeit und das Bundesverfassungsgericht hat an der Entwicklung teilgenommen. Diese stelle ich in den nachfolgenden Abschnitten mit prägenden Entscheidungen vor.
Rein äußerlich sind zunächst organisatorische Änderungen zu erwähnen: Die Reduzierung der Mitgliederzahl eines Senats von zwölf auf acht und nachfolgend nicht mehr für einen Teil der Mitglieder eine lebenslange Dienstzeit mit einer Altersbegrenzung bei 68 Jahren, sondern für alle zwölf Jahre (mit der Altersgrenze von 68 Jahren) ohne die Möglichkeit der Wiederwahl sowie die öffentliche abweichende Meinung. Das sind im Übrigen Organisationsmerkmale, die international immer Gegenstand der Fachgespräche und politischen Diskussionen auf Regierungsebene waren.
2. Das weltweite Ansehen des Bundesverfassungsgerichts beruht allerdings und zurecht auf seiner Rechtsprechung zu den Grundrechten in den Anfangsjahren nach 1951. Ihm kam – wettbewerblich gesehen – eine Alleinstellung zu. Es gab – soweit ersichtlich – kein Gericht in einem Staat mit derlei umfassenden und dadurch das Staatswesen prägenden Zuständigkeiten, gipfelnd in dem Individualrechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde zur Durchsetzung der Menschen- und Grundrechte.
Hierfür war der Umstand maßgeblich, dass es zwar schon die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen gab wie auch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Diese waren aber anders als der Grundrechtskatalog und die den Grundrechten gleichgestellten Rechte des Grundgesetzes nicht justiziell abgesichert. Es gibt kein Gericht, das um Hilfe hätte angerufen werden können. Es mangelte an einem effektiven Transportmittel.
a. Für die herausragende Stellung sind beispielhaft vor allem die nachfolgenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu einzelnen Grundrechten zu erwähnen; gleichwohl ist ein den Signalentscheidungen in Bd. 6, 32 – Elfes – und Bd. 7, 198 – Lüth – vorangehendes und für diesen Zusammenhang regelmäßig außer acht gelassenes grundlegendes Urteil für die rechtsstaatlich-demokratische Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland als gelebte soziale Demokratie zu nennen. So war z.B. die theoretische Entwicklung eines „Gewährleistungsstaates“ in der Rechtswissenschaft mit nachfolgend flächendeckender Privatisierung öffentlicher Infrastruktur ein eklatanter Widerspruch zu dieser grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Dessen Weitsicht bestätigt sich leidvoll in der Gegenwart.
Es handelt sich um das Urteil des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 17. August 1956 im Verfahren über das Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands (BVerfGE 5, 85). Es führt in diesem Zusammenhang zu den die Grundrechte überwölbenden zentralen und unabänderlichen Strukturen der Staatsform der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 20 GG aus:
„Die freiheitliche Demokratie lehnt die Auffassung ab, dass die geschichtliche Entwicklung durch ein wissenschaftlich erkanntes Endziel determiniert sei und dass folglich auch die einzelnen Gemeinschaftsentscheidungen als Schritte zur Verwirklichung eines solchen Endzieles inhaltlich von diesem her bestimmt werden könnten. Vielmehr gestalten die Menschen selbst ihre Entwicklung durch Gemeinschaftsentscheidungen, die immer nur in größter Freiheit zu treffen sind. Das ermöglicht und erfordert aber, dass jedes Glied der Gemeinschaft freier Mitgestalter bei den Gemeinschaftsentscheidungen ist. Freiheit der Mitbestimmung ist nur möglich, wenn die Gemeinschaftsentscheidungen – praktisch Mehrheitsentscheidungen – inhaltlich jedem das größtmögliche Maß an Freiheit lassen, mindestens aber ihm stets zumutbar bleiben. Anstelle eines vermeintlich vollkommenen Ausgleichs in ferner Zukunft wird ein relativer ständiger Ausgleich schon in der Gegenwart erstrebt. Wenn als ein leitendes Prinzip aller staatlichen Maßnahmen der Fortschritt zu ,sozialer Gerechtigkeit‘ aufgestellt wird, eine Forderung, die im Grundgesetz mit seiner starken Betonung des ,Sozialstaats‘ noch einen besonderen Akzent erhalten hat, so ist auch das ein der konkreten Ausgestaltung in hohem Maße fähiges und bedürftiges Prinzip. Was jeweils praktisch zu geschehen hat, wird also in ständiger Auseinandersetzung aller an der Gestaltung des sozialen Lebens beteiligten Menschen und Gruppen ermittelt. …
Die Tendenz der Ordnung und die in ihr angelegte Möglichkeit der freien Auseinandersetzung zwischen allen realen und geistigen Kräften wirkt aber in Richtung auf Ausgleich und Schonung der Interessen aller. Das Gesamtwohl wird eben nicht von vornherein gleichgesetzt mit den Interessen oder Wünschen einer bestimmten Klasse; annähernd gleichmäßige Förderung des Wohles aller Bürger und annähernd gleichmäßige Verteilung der Lasten wird grundsätzlich erstrebt. Es besteht das Ideal der ,sozialen Demokratie in den Formen des Rechtsstaates‘.
Die staatliche Ordnung der freiheitlichen Demokratie muss demgemäß systematisch auf die Aufgabe der Anpassung und Verbesserung und des sozialen Kompromisses angelegt sein; sie muss insbesondere Missbräuche der Macht hemmen“. (Seite 197 f.).
b. Das Bundesverfassungsgericht stützt mit diesen Ausführungen über die zentralen Staatsstrukturbestimmungen des Grundgesetzes den Gehalt und die Wirkkraft der gemäß Art. 1 Abs. 1 und 2 GG gewährleisteten Menschen- und Grundrechte ab. Die Erfüllung der hierzu in Art. 1 Abs. 3 GG normierten Pflicht der staatlichen Gewalten ist durch nachfolgende Entscheidungen zu einzelnen Grundrechten deutlich zu erkennen.
aa. Ebenfalls der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts erweitert 1957 in seiner Entscheidung zur Ausreisefreiheit betreffend Art. 11 GG die individuelle Rechtsstellung der Menschen. Hiernach kann jedermann im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen, eine seine Handlungsfreiheit beschränkende Rechtsnorm gehöre nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung. Damit ist für die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde der Weg eröffnet, wenn geltend gemacht wird, dem tätig gewordenen Gesetzgeber (Bund statt Land oder umgekehrt) fehle die Gesetzgebungskompetenz (BVerfGE 6,32 – Elfes –).
Es handelt sich hierbei wiederum um ein „dogmatisches Glanzstück“ des Bundesverfassungsgerichts; denn im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes sind keine die organisatorischen Strukturen betreffenden Individualrechtspositionen aufgeführt. Mit dieser Konstruktion hat das Bundesverfassungsgericht schon in den Anfangsjahren den Grundrechten eine nicht zu unterschätzende Fernwirkung verliehen. Diese reicht bis in die Gegenwart und hätte im Zusammenhang mit der europäischen Integration einer sachgerechten und dem politischen Anliegen gerecht werdenden Dimension den Weg bereiten können. Hätte man der damaligen herausragenden gedanklichen und auch rechtssystematisch wie dogmatisch unanfechtbaren Konstruktion Rechnung getragen, hätten Fehlleistungen und Irrwege in justizieller Hinsicht nebst davon herrührenden politischen Verwerfungen ohne Schwierigkeiten vermieden werden können. (Hierzu nachfolgend unter III. 3.)
bb. Die demgegenüber allgemein als die zentrale Entscheidung für die neue rechtsstaatliche Welt und den umfassenden Schutz der Menschen- und Grundrechte herausgestellte nach dem damaligen Beschwerdeführer benannte Lüth-Entscheidung (Bd. 7, 198) hat vor allem wegen der Konturierung der Geltung und Wirksamkeit der Grundrechte auch im Zivilrechtsbereich und zwischen privaten Individuen ihre bleibende Bedeutung. Sie ist die folgerichtige Weiterentwicklung rechtsstaatlich-demokratischer Wertentscheidungen des Grundgesetzes, wie sie in den zuvor genannten Erkenntnissen begründet wurden.
Allerdings hat diese Entscheidung in anderer Hinsicht fundamentale Bedeutung für unser Gemeinwesen. Die in Leitsatz 1 genannte „objektive Wertordnung“ vermittelt verschiedene Einsichten in das Gesamtsystem des Grundgesetzes mit seinen im einzelnen ausdifferenzierten Grundrechten: Die objektive Wertordnung der Grundrechte löst die inmitten stehenden Rechtspositionen der Individuen teilweise dergestalt von ihnen ab, dass den speziellen Grundrechtspositionen gleichsam eine institutionelle Komponente zugewiesen wird, die nicht zur Disposition der Grundrechtsträger steht. Diese sind unverzichtbar und bilden auf diese Weise die dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland insgesamt innewohnende rechtsstaatlich-demokratische Ordnung. Beispiele: Kein Einsatz von Lügen-Detektoren oder Folter (im Sinne einer mittelalterlichen Wahrheitsprobe).
cc. Diese Zusammenhänge von objektiver und subjektiver Bedeutung der Grundrechte und auf diesem Wege ihre Einbettung in das Staatsganze werden ferner durch das sog. Apotheken-Stopp-Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1958 vermittelt (BVerfGE 7, 377). In diesem Urteil hat es nicht nur die von der Ausbildung her bekannte 3-Stufen-Theorie entwickelt, die in der Folge auf weitere Bereiche übertragen wurde (z.B. Facharzt BVerfGE 33, 125). Hier wurde eindrucksvoll der generell für staatliches Handeln elementare Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entfaltet (1962 von Lerche in seiner Habilitationsschrift umfassend behandelt) und zugleich auch die Bedeutung von Grundrechts-Betätigungen für die soziale Demokratie sichtbar gemacht.
3. Von daher erschließt sich allerdings weiter, dass der Staat sehr wohl auf Grundvoraussetzungen aufbauen kann, die er selbst schaffen kann und für deren Durchsetzung er nach den im KPD-Verbotsurteil erläuterten Strukturprinzipien unseres Staatswesens die Verantwortung und zwar alleine trägt. Es ist also keineswegs so, dass das Staatswesen unter der Geltung des Grundgesetzes auf Hilfestellungen von dritter Seite angewiesen wäre, auf solche warten oder sich an ihnen ausrichten dürfte; vielmehr ist es verpflichtet, in der Gesamtordnung der Strukturbestimmungen des Grundgesetzes die Vergangenheit der Jahre 1933-1945, aber in Teilen auch noch menschlich existenziell belastende „Hypotheken“ seit den davorliegenden Jahrzehnten zu bewältigen. Ich verweise beispielhaft auf die Gleichstellung der Frauen, der nichtehelichen Kinder wie auch den Schutz der sexuellen Orientierung.
Im Hinblick darauf bedeuten die unreflektierte Privatisierung staatlicher Infrastruktur wie auch die Konstruktion eines Gewährleistungsstaates eine Verfassungsverletzung. Gerade die Pandemie wie die vorangehende Finanzmarktkrise und nunmehr die verheerenden Verwerfungen durch den von Russland entfesselten Krieg in der Ukraine zeigen, wie kurzsichtig und gedankenlos solche Maßnahmen über die Jahre in Wirklichkeit waren und im Übrigen bis in die Gegenwart durch irritierende Gestaltungen in Freihandelsabkommen wie Investorschutz, private Schiedsgerichte und regulatorische Zusammenarbeit weiter gepflegt werden.
Kommt es also zu Fehlentwicklungen, ist das schlicht ein Versagen der demokratisch legitimierten Staatsorgane und nicht von vor dem Staat liegenden nicht von ihm, sondern von dritter Seite zu verantwortenden Grundvoraussetzungen.
III. Aktueller Stand der Entwicklung
1. Im Zuge der fortschreitenden europäischen Integration mit dem Ausbau und der Fortentwicklung der Europäischen Union und der Erweiterung der Mitgliederzahl der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschen- und Grundrechte haben sich zwei „Mitspieler“ für den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten entwickelt und überaus respektabel etabliert. Zwangsläufig hat dadurch die jahrzehntelang weltweit anerkannte Stellung des Bundesverfassungsgerichts für den Schutz der Menschen- und Grundrechte an Bedeutung eingebüßt. Das gilt so nicht für seine in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommene Rechtsprechungs-Leistung in föderalen Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern. Dieser Bereich darf im Hinblick auf die internationalen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte nicht gering erachtet werden. Die Themen vieler Begegnungen etwa mit Nepal, Irak, Zypern, Südkorea und afrikanischen Staaten – nicht nur im arabischen Frühling – betrafen diese auch von außen anerkannte solide föderale Struktur in der Bundesrepublik Deutschland.
2. Das Auftreten der Mitwettbewerber bei der Bestimmung von Gehalt und Tragweite der Menschen- und Grundrechte in Gestalt von EGMR und EuGH bedingt naheliegend eine Umorientierung des Bundesverfassungsgerichts in Richtung auf den veränderten Standort. Es muss sich als Glied in einer größeren Gemeinschaft von gleichgestellten Verfassungsgerichten oder entsprechenden Einrichtungen anderer Staaten teilweise neu „erfinden“. Es ist nunmehr eine Institution unter je nach dem 27 oder 46 gleichgewichtigen Institutionen. Ihm kommt keine Vorzugsstellung oder bedeutendere Stellung zu. Aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes in die Zuverlässigkeit der genannten Rechtsordnungen in Europa ist Loyalität gegenüber den übergeordneten Staatenverbindungen und ihren Rechtsprechungsorganen unabdingbar. Jedes andere Verhalten zieht für alle Beteiligten Verlust von Ansehen und Bedeutung im Völkerrechtsverkehr nach sich. Zur Vermeidung von Friktionen wurde vergleichbar im föderalen Staat der Bundesrepublik Deutschland der Grundsatz der Pflicht zu bund/länderfreundlichem Verhalten entwickelt. Hierzu ist zunächst festzuhalten, dass aufgrund der großen Mitgliederzahl der EMRK – nach dem Austritt Russlands immer noch 46 – und auf der engeren europäischen Ebene der EU der EuGH nach dem Austritt von Großbritannien 27 Staaten die zum Schutz der Menschen- und Grundrechte berufenen Gerichte eine gegenüber dem Bundesverfassungsgericht überragende Stellung für die dort geschaffenen Rechtsordnungen haben. Es ist naheliegend, dass deren Rechtssprüche national für die jeweiligen Mitgliedstaaten und über die bestehenden weit ausgreifenden Rechtsordnungen eine globale Ausstrahlungswirkung haben, die durch die Globalisierung des Wirtschaftsverkehrs und der damit einhergehenden komplexen Rechtsbeziehungen in ihrer Bedeutung nicht mit der Rechtsprechungstätigkeit des deutschen Bundesverfassungsgerichts im Grundrechtsbereich zu vergleichen ist.
3. Versuche, diese Entwicklung abzuschwächen oder gar durch Umgehungs- oder Vermeidungsstrategien zu unterlaufen, sind verfehlt und rechtsstaatlich-demokratisch nicht akzeptabel. Sie gefährden die Rechtssicherheit und das Vertrauen der Menschen in die Verlässlichkeit der durch die Staatenverbindungen geschaffenen und folglich über der nationalen Ebene stehenden Rechtsordnungen.
a. Konstruktionen wie ein Rechtsprechungsdreieck zwischen EuGH, EGMR und BVerfG zu bilden, sind fehlsam. Sie lassen völlig außer acht, dass das Bundesverfassungsgericht nicht das „Oberverfassungsgericht“ innerhalb der Staatenverbindung Europäische Union ist. Vielmehr ist es in dieser überstaatlichen Rechtsordnung auf derselben Ebene mit den Verfassungsgerichten oder vergleichbaren Institutionen in den anderen Mitgliedstaaten. Es handelt sich, obwohl die EU noch kein Bundesstaat ist, gleichwohl um das gleiche Geltungsgerüst wie etwa im Bundesstaat Bundesrepublik Deutschland: Das BVerfG ist in der Rechtsordnung des Grundgesetzes und die Landesverfassungsgerichte sind in ihren Landesrechtsordnungen angesiedelt und dürfen nicht in die Bundesrechtsordnung und damit in den Zuständigkeitsbereich des BVerfG übergreifen. Damit würden die Rechtssicherheit und die Zuverlässigkeit der Verfassungsrechtsordnungen insgesamt beschädigt und ihnen die Grundlage entziehen. Zudem würden die Zuverlässigkeit und das Vertrauen in die Bundesrepublik Deutschland im Völkerrechtsverkehr verspielt, was auch durch nationales Übergreifen auf europäische Ebenen hervorgerufen werden kann.
Unter Beachtung dieser allgemein anerkannten und lange unangefochten geübten Grundsätze liegt allerdings im Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 6. November 2019 (Recht auf Vergessen II, BVerfGE 152, 216 LS 1) eine „Selbstermächtigung“ im Verhältnis zur EU – Rechtsordnung. Zur Abrundung dieses Problembereichs ist der Hinweis geboten, dass schon im Maastricht-Urteil von 1993 (BVerfGE 89, 155, LS 7, S.3) durch die einseitige Installierung eines Kooperationsverhältnisses zwischen BVerfG und EuGH eine Selbstermächtigung in Anspruch genommen wurde. Das allerdings fällt allein in die Verantwortung und Kompetenz der Mitgliedstaaten und ihrer rechtsstaatlich-demokratischen Organe.
b. Gerichte sind ohne gesetzliche Ermächtigung nicht befugt, zu kooperieren; vielmehr sind sie verpflichtet, innerhalb ihrer Rechtsordnung rite zu entscheiden. Kooperieren dürfen sie nur bei Anordnung von Vorlagepflichten. Sofern solche nicht vorgesehen sind, sind Kooperationen zu unterlassen. Es hilft auch nicht weiter, sich mittelbar eine Rechtsprechungsgewalt über eine andere Rechtsordnung unter Inanspruchnahme der Beachtung derselben anzumaßen. Dazu bedürfte es zunächst der Klärung der internationalen Zuständigkeit in völkerrechts- vertragsrechtlicher Weise. Das allerdings erforderte eine übereinstimmende Entscheidung aller übrigen Mitgliedstaaten.
Überraschend ist an dieser Konstruktion, dass die vorstehend geschilderte dadurch entstehende Problemlage übersehen wurde. Es ist auch nicht so, dass der fortschreitenden europäischen Integration angemessene Lösungen für das Verhältnis der Rechtsprechungsorgane auf der Integrationsebene und der einzelnen Mitgliedstaaten außer gedanklicher Reichweite gelegen hätten. Bei Beachtung des zentralen Umstandes, dass die Europäische Union noch kein Bundesstaat, sondern eine Verbindung von Einzelstaaten ist, ergibt sich eine dem folgende transparente, der Rechtssicherheit und der Verlässlichkeit der europäischen Staatenverbindung gerecht werdende Lösung. Diese liegt in einem „Komplementärverhältnis“ zwischen dem zentralen Rechtsprechungsorgan der Staatenverbindung und den einzelnen Verfassungsrechtsprechungsorganen der Mitgliedstaaten.
Ein solches Komplementärverhältnis bildet die Brücke zwischen dem Gemeinschaftsrecht und den nationalen Rechtsordnungen. Der „Charme“ dieser Konstruktion liegt darin, dass die auf verschiedenen Ebenen angesiedelten Rechtsprechungsorgane innerhalb ihrer nationalen Rechtsordnung vollumfänglich tätig werden und mit dem Blick auf die Gemeinschaftsebene ohne Übergreifen auf diese und damit Verletzung des Gemeinschaftsrechts beurteilen dürfen, ob die Beteiligung des Mitgliedstaats an der vom EuGH ausgeformten Gemeinschaftsrechtsordnung der nationalen Rechtsordnung gerecht wird. Wenn nicht, bleibt auf nationaler Ebene nur der Ausspruch, dass das Land sich nicht so an der Europäischen Union beteiligen darf und deshalb auf eine Vertragsänderung, Klarstellung der Verträge oder aber Austritt hinzuwirken hat.
Nur so können Rechtssicherheit und Verlässlichkeit des Gemeinschaftsrechts in der globalisierten Welt durchgesetzt und bewahrt werden. Dem stehen nationale Einzelgänge entgegen und die EU büßt an Ansehen und Gewicht im internationalen Staatengeflecht ein.
IV. Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts nach 70 Jahren
Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings in den Jahrzehnten nach den vorstehend geschilderten „Glanzjahren“ selbst durch Fehleinschätzungen zum Bedeutungsverlust beigetragen. Die Internationalisierung auf europäischer Ebene ist keine neuere Entwicklung. Sie hat schon in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eingesetzt (die Entwicklungslinien sind nachgezeichnet von Broß, VerwArch 92 (2001),S. 425). Es ging hierbei vor allem um bedeutende überstaatliche Verbindungen, wie z.B. Eurocontrol. Damals wurde übersehen, dass die Beteiligung an internationalen Staatenverbindungen keineswegs zu einer Schwächung der Menschen- und Grundrechtsbindung führen darf. Der Widerspruch zu den Verpflichtungen aus Art. 1 GG sprang geradezu ins Auge; denn die Auslagerung von staatlichen Bereichen oder die Beteiligung an internationalen Organisationen wäre das effektive Instrument, sich der staatlichen Schutzverpflichtung zur Durchsetzung der Menschen- und Grundrechte zu entziehen.
Die bedrückenden und geradezu beschämenden Folgen sind seit Jahren in der Diskussion im Zusammenhang mit leichtfertig gestalteten Freihandelsabkommen [gemeint sind Abkommen wie TTIP, CETA, JEFTA; Anm. BWT] und einer regelmäßig in Abrede gestellten Verpflichtung zur Überwachung und Kontrolle der Lieferketten. Hinzu kommt gleichsam privatisierter Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch demokratisch nicht legitimierte Gerichte und nicht geklärter Übereinstimmung mit den Grundwerten der Mitgliedstaaten. Diese haben keinerlei Kontrollmöglichkeiten, ob ihre eigenen verfassungsrechtlichen Verpflichtungen auf der höheren Ebene noch Beachtung finden.
1. Diese Ausgangslage hatte Langzeitwirkung bis zur Finanzmarktkrise, vorhergehend dem Börsen-Crash im Jahre 2000 und aktuell auch für Neubildungen auf der EU-Ebene unter Anlehnung an die völkerrechtliche Staatenverbindung der Europäischen Patentorganisation.
a. Im Zusammenhang mit der Finanzmarktkrise sei nur ein markanter Vorgang herausgegriffen. Es war völlig verfehlt, dass das Bundesverfassungsgericht in einem der zahlreichen Verfahren eine Vorlage an den EuGH gefertigt hat. Eine solche Vorlage durch ein nationales Verfassungsgericht bedeutet einen unzulässigen Übergriff in die höhere Rechtsordnung, weil damit auf diese vom nationalen Verfassungsgericht maßgeblicher Einfluss genommen werden soll. Aus diesem Grunde hatte das Bundesverfassungsgericht zu Recht und sehr naheliegend – ungeachtet der Beurteilung seiner Entscheidungen in diesem Zusammenhang im Übrigen – in früheren Jahren hiervon Abstand genommen.
Zudem sind solche Vorlagen unzulässig, weil es auf der nationalen Ebene an der Entscheidungserheblichkeit fehlt. Unabhängig davon, wie der EuGH entscheidet, ist dies nach nationalem Verfassungsrecht irrelevant. Das national für die Entscheidung zuständige Verfassungsorgan hat seine Entscheidung allein innerhalb der nationalen Rechtsordnung zu treffen und insoweit darüber zu befinden, ob sich das Land bei dieser oder jener Maßnahme auf der Gemeinschaftsebene an der Staatenverbindung beteiligen dürfte. Die Entscheidungserheblichkeit für eine Vorlage an den EuGH ist ersichtlich nicht gegeben.
Solche Fehlleistungen zeigen jedoch, wie verheerend für Rechtssicherheit, Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit der Rechtsordnung der Europäischen Union der Schaden ist, wenn einzelne Verfassungsgerichte oder ihnen gleichgestellte Verfassungsorgane die vorgezeichneten und vertraglich vereinbarten allgemein anerkannten Pfade verlassen.
Das verwundert um so mehr, als das Bundesverfassungsgericht in der Elfes-Entscheidung vor mehr als 60 Jahren schon einen Weg aufgezeichnet hatte, der die Menschen mit einem Individualrechtsschutz auch in den organisatorischen Bereich einer Rechtsordnung einbezieht. So wie die Individualrechtsbeschwerde seither auf fehlende Gesetzgebungskompetenzen gestützt werden kann, hätte man sie ohne Schwierigkeiten für den Integrationsbereich fruchtbar machen können. Es hätte nicht des in der Maastricht-Entscheidung entwickelten Umweges über Art. 38 GG bedurft. Dieser hat zudem den Nachteil, dass Art. 38 GG ein Verfahrensrecht ohne materiellen Gehalt vermittelt. Demgegenüber hätte man mit der „Elfes-Konstruktion“ materielle Kriterien einbezogen mit der Rüge, die Bundesrepublik Deutschland dürfe sich nicht an der Integration beteiligen, wenn sich die EU-Ebene in diese oder jene Richtung entwickelt, so wie etwa mit ausuferndem Ankauf von Staatsanleihen und dergleichen mehr.
Es gibt insoweit unter Beachtung der völkerrechtlichen Tradition und der nationalen Verfassungsrechtsordnungen der Mitgliedstaaten nur eine gangbare Lösung: Transparenz und keine stillen und versteckt tagenden Gremien, sondern ein von den verantwortlichen nationalen Verfassungsorganen öffentlich gebildetes Kompetenzkonflikt-Gericht mit einer rechtsstaatlich-demokratischen Struktur. Nur so können im Übrigen die Werte der Mitgliedstaaten, der Europäischen Union und der EMRK verantwortlich gewährleistet werden. „Macher“ sind nicht gefragt. (Einzelheiten zu diesem Komplex bei Broß, Börsen-Zeitung vom 9.6.2020,S. 7 [pdf]).
b. Aktuell ist zum Beispiel seit Jahren für die Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland und aller EU-Staaten wie vieler Mitgliedstaaten der EMRK an der Europäischen Patentorganisation die fehlende Gerichtsqualität ihrer Beschwerdekammern. Für diese wird Gerichtsqualität in Anspruch genommen, obwohl diese in die Gesamtorganisation eingebunden sind und letztlich der Oberaufsicht der Verwaltungsspitze unterliegen. Zudem gibt es zahlreiche Defizite für die Angehörigen in ihrer arbeitsrechtlichen Absicherung.
Hier haben Deutschland und die vertragschließenden Staaten versagt, weil unter Missachtung von EMRK, Grundrechte-Charta und nationalen Grundrechten kein effektiver Grundrechtsschutz durch unabhängige Gerichte sichergestellt werden kann. Die häufig geübte „Flucht ins Völkerrecht“ darf keinesfalls zum Wegfall der zwingenden Verpflichtung, die Menschen- und Grundrechte in der überstaatlichen Organisation zu beachten und zu schützen, führen. Die Fehlleistung wird noch dadurch unterstrichen, dass Deutschland als Sitzland des Zentrums der EPO den Vorsitz im maßgeblich für die Aufsicht zuständigen Verwaltungsrat hat.
c. Das Bundesverfassungsgericht hatte die Gelegenheit, Ordnung und Klarheit in Bezug auf die Gewährleistung und den Geltungsumfang der Menschen- und Grundrechte in überstaatlichen Organisationen zu schaffen und auf diese Weise diskret und mit der gebotenen Zurückhaltung die bisher innegehabte Stellung mit neuem Leben zu erfüllen. Demgegenüber hat es z.B. seit vielen Jahren die Frage des Individualrechtsschutzes in der EPO trotz zahlreicher Beschwerden, europaweiter öffentlicher Auseinandersetzungen sowie bei ihm anhängigen Verfahren zurückgestellt, um dem Gemeinschaftspatentsgericht aufgrund einer viel späteren und logisch wie praktisch nachrangigen Verfassungsbeschwerde die Tür zu öffnen und die so drängende Menschenrechtsfrage weiter ungeklärt gelassen.
2. Die Betrachtung von 70 Jahren Bundesverfassungsgericht und seiner Entwicklung seit den glanzvollen Jahren nach 1951 stimmt nachdenklich. Es hat eine wechselvolle Entwicklung durchgemacht von einer ursprünglich geradezu weltweiten Alleinstellung und leuchtendem Vorbild zu einem „Mitspieler“ im globalen Geflecht von Rechtsordnungen, die nicht allein die Menschen- und Grundrechte, sondern alle Lebensbereiche der verschiedenartigsten Gesellschaften über den Globus verteilt prägen. Versäumnisse nicht einer Neubestimmung, sondern der Vergewisserung der Stellung und Bedeutung in der rechtsstaatlich-demokratischen sozialen Staatsform in der späteren Zeit nach 1951 wirken aufgrund verfehlter jahrzehntelanger Wirtschafts- und Sozialpolitik in den genannten Krisen bis zu Corona und Ukraine nach.
Dr. Siegfried Broß
Dr. h.c. Universitas Islam Indonesia – UII – Yogyakarta
Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D.
Richter am Bundesgerichtshof a. D.
Honorarprofessor an der Universität Freiburg im Breisgau
Ehrenvorsitzender der Deutschen Sektion der Internationalen Juristenkommission e.V. und der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe
Ehrenmitglied des Internationalen Beratungskomitees und
Ehrenvorsitzender des Think Tank Africast von CAFRAD
Advisory Board Member Durham Law School – Centre for Criminal Law & Justice
Träger des Max-Friedlaender-Preises 2017
Der Vortrag findet sich auch im Broß-Archiv:
https://www.bayerischer-anwaltverband.de/recht-und-gesellschaft/das-bross-archiv/
Netzwerk Gerechter Welthandel: Bundesverfassungsgericht weist Organklage gegen CETA zurück
Berlin/Karlsruhe, 2. März 2021 – Das Bundesverfassungsgericht wies heute eine Organklage der Linksfraktion im Bundestag zurück, die sich gegen die unzureichende Beteiligung des Bundestages bezüglich des Handels- und Investitionsschutzabkommens der EU mit Kanada (CETA) richtete. Das Netzwerk Gerechter Welthandel bedauert die Entscheidung des Gerichts, verweist jedoch auf die noch laufende Verfassungsbeschwerde der Organisationen foodwatch, Mehr Demokratie und Campact zur Verfassungskonformität von CETA selbst.
„Sollte das EU-Kanada-Abkommen vollständig ratifiziert werden, treten die gefährlichen Sonderklagerechte für Konzerne in Kraft. Diese ermöglichen internationalen Konzernen, Staaten beispielsweise wegen Umwelt- oder Klimavorgaben auf horrenden Schadensersatz zu verklagen“, sagt Alessa Hartmann, Handelsexpertin bei der Nichtregierungsorganisation PowerShift.
Die Organisationen kritisieren außerdem die weitreichende Entscheidungsmacht der durch CETA eingerichteten Ausschüsse, die mit Vertreter*innen der EU-Kommission und Kanadas besetzt sind.
„Die CETA-Ausschüsse können weitreichende Entscheidungen treffen, die Millionen Bürgerinnen und Bürger unmittelbar betreffen – ohne irgendeine Mitsprache des EU-Parlaments oder der nationalen Parlamente. Die Entscheidungsfindung ist zudem aufgrund mangelhafter Transparenz kaum nachvollziehbar. Das sind schwerwiegende demokratische Defizite“, sagt Rauna Bindewald von foodwatch Deutschland.
Ob die CETA-Ausschüsse sowie die Konzernklagerechte überhaupt mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar sind, ist Gegenstand der von foodwatch, Mehr Demokratie und Campact eingereichten Verfassungsbeschwerde. Das Bundesverfassungsgericht hat eine Verhandlung für das erste Halbjahr 2021 angekündigt.
„Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass Teile von CETA nicht verfassungskonform sind, doch davon unabhängig ist die politische Bewertung des Abkommens an sich. Es ist für keine Partei mehr rechtfertigbar, dass sie demokratische Entscheidungen freiwillig unter den Vorbehalt von Schiedgerichtsklagen stellt und damit Millionen an Steuergeld riskiert. Nach dem erneuten Bekanntwerden einer Schiedgerichtsklage, diesmal gegen die Niederlande aufgrund des Kohleausstieges auf 1,4 Milliarden Schadenersatz, ist eine Ratifizierung von CETA schlicht fahrlässig,” sagt Sarah Händel, Bundesvorständin von Mehr Demokratie.
Auch vor Ort gab es Protest: Unter dem Motto „Auch das Bundesverfassungsgericht kann aus CETA kein gerechtes Handelsabkommen machen!“ protestierte das Netzwerk Gerechter Welthandel Baden-Württemberg gemeinsam mit Vertreter*innen der LINKEN auf dem Karlsruher Marktplatz. Auch der DGB Karlsruhe und Greenpeace Karlsruhe waren bei der Aktion vertreten.
siehe auch:
Bundesverfassungsgericht: Erfolgloses Organstreitverfahren betreffend das Umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen EU-Kanada (CETA)
Pressemitteilung Nr. 18/2021 vom 2. März 2021
2. März 2021 – Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen CETA
Bundesverfassungsgericht
Urteilsverkündung in Sachen „Organklage betreffend das Umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen EU-Kanada (CETA)“
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts wird auf Grundlage der mündlichen Verhandlung vom 13. Oktober 2020 (siehe Pressemitteilungen Nr. 70/2020 vom 7. August 2020 und Nr. 84/2020 vom 10. September 2020) am
Dienstag, 2. März 2021, um 12.00 Uhr (bisher: 10.00 Uhr),
im Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts,
Schlossbezirk 3, 76131 Karlsruhe
sein Urteil verkünden
Zum Beitrag
Bundesverfassungsgericht: Urteilsverkündung in Sachen CETA am Dienstag, 2. März 2021, 10.00 Uhr
Bundesverfassungsgericht – Pressestelle –
Pressemitteilung Nr. 5/2021 vom 19. Januar 2021
Urteilsverkündung in Sachen „Organklage betreffend das Umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen EU-Kanada (CETA)“ am Dienstag, 2. März 2021, 10.00 Uhr
„Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts wird auf Grundlage der mündlichen Verhandlung vom 13. Oktober 2020 (siehe Pressemitteilungen Nr. 70/2020 vom 7. August 2020 und Nr. 84/2020 vom 10. September 2020) am
Dienstag, 2. März 2021, um 10.00 Uhr,
im Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts,
Schlossbezirk 3, 76131 Karlsruhe
sein Urteil verkünden.“
Text unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/bvg21-005.html
Broß: Das Krankenhaus – ein kommerzieller Wirtschaftsbetrieb?
Siegfried Broß*: Das Krankenhaus – ein kommerzieller Wirtschaftsbetrieb?
Festvortrag auf dem 17. Bundeskongress des Bundesverband Deutscher Pathologen e.V. am 23. September 2017 in Berlin
A. Die Fragestellung
1. Aktualität
Das Thema des heutigen Vormittags ist nicht erst seit einigen Jahren aktuell. Vielmehr ist es in einen gesellschaftlichen Entwicklungsprozess eingebettet, der vor nunmehr etwa 30 Jahren (in einigen Bereichen auch schon früher) eingesetzt hat. Die Tragweite und Tiefe der Fragestellung, die Sie mir erfreulicherweise als Thema für den heutigen Vortrag vorgegeben haben, sind überaus vielschichtig, sehr komplex und zunehmend auch in der rechtsstaatlich-demokratischen Staatlichkeit intransparent. Letzteres wird seit nunmehr schon geraumer Zeit an bedrückenden Erscheinungsformen und Entwicklungen wie Finanzmarkt- und Euro-Krise wie auch der Manipulationen von Weltunternehmen bezüglich des Ausstoßes von Schadstoffimmissionen bis hin zu weit gespannten Kartellen im Automobilbereich deutlich. Nebenbei ist – wenn auch von der Politik nicht selten klein geredet – auf die für die Staatenwelt systemrelevanten Manipulationen von weltweit agierenden Bankinstituten hinzuweisen.
Was hat das mit der heutigen Fragestellung zu tun? Die Antwort erschließt sich erst bei einer umfassenden Betrachtungsweise und einer sehr differenzierten Herangehensweise an die vielfältigsten Ursachen.
Ob das Krankenhaus ein kommerzieller Wirtschaftsbetrieb ist, wird in der gesamten Tragweite nicht bei einer sehr eingeengten und vordergründigen, geradezu kleinkarierten betriebswirtschaftlichen Betrachtungsweise, erkennbar. Vielmehr ist die Problematik und dem entsprechend die Antwort unmittelbar und substantiell mit einem Kulturwandel verbunden. Möchte man – und das allein wird der Verantwortung gegenüber den Menschen und einer sich seit Jahrhunderten ändernden Welt mit vielen Rückschlägen und großen Opfern für die Menschen und persönliche Schicksale gerecht – zu einer ethisch und die Würde der Menschen wahrenden Antwort gelangen, kann dies angemessen nur mit den nachfolgenden weit ausgreifenden Überlegungen gelingen. weiterlesen
CETA: Bundesverfassungsgericht lässt vorläufige Anwendung laufen, endgültige Entscheidung steht noch aus
Gemeinsame Pressemitteilung
von Mehr Demokratie e.V., foodwatch und Campact
13.01.2017
Wie gestern (12. Januar) bekannt wurde, hat das Bundesverfassungsgericht mit einem Beschluss vom 7. Dezember 2016 mehrere Eilanträge mit dem Ziel, die vorläufige Anwendung von CETA zu stoppen, abgelehnt. Das Gericht spricht mit seinem Urteil der Bundesregierung und der EUKommission das Vertrauen aus, dass seine im Oktober 2016 festgelegten Auflagen tatsächlich eingehalten werden. Die Entscheidung im Hauptsacheverfahren, ob CETA verfassungskonform ist, muss das Gericht noch treffen.
CETA-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist eine Ohrfeige für die Bundesregierung
Urteil Bundesverfassungsgericht
Bundesverfassungsgericht: Eilanträge in Sachen „CETA“ erfolglos. Pressemitteilung Nr. 71/2016 vom 13. Oktober 2016.
Urteil vom 13. Oktober 2016 – 2 BvR 1368/16, 2 BvR 1444/16, 2 BvR 1823/16, 2 BvR 1482/16, 2 BvE 3/16
Mit heute verkündetem Urteil hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mehrere Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, die sich gegen eine Zustimmung des deutschen Vertreters im Rat der Europäischen Union zur Unterzeichnung, zum Abschluss und zur vorläufigen Anwendung des Freihandelsabkommens zwischen der Europäischen Union und Kanada (Comprehensive Economic and Trade Agreement – CETA) richteten, über die der Rat der Europäischen Union voraussichtlich am 18. Oktober 2016 entscheiden wird. Die Bundesregierung muss allerdings sicherstellen,
– dass ein Ratsbeschluss über die vorläufige Anwendung nur die Bereiche von CETA umfassen wird, die unstreitig in der Zuständigkeit der Europäischen Union liegen,
– dass bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache eine hinreichende demokratische Rückbindung der im Gemischten CETA-Ausschuss gefassten Beschlüsse gewährleistet ist, und
– dass die Auslegung des Art. 30.7 Abs. 3 Buchstabe c CETA eine einseitige Beendigung der vorläufigen Anwendung durch Deutschland ermöglicht.
Bei Einhaltung dieser Maßgaben bestehen für die Rechte der Beschwerdeführer sowie für die Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages keine schweren Nachteile, die im Rahmen einer Folgenabwägung den Erlass einer einstweiligen Anordnung geboten erscheinen ließen. […]
Vgl. auch BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 13. Oktober 2016 – 2 BvR 1368/16 – Rn. (1-73), http://www.bverfg.de/e/rs20161013_2bvr136816.html
Kommentar
Björn Schiffbauer: Vorläufige Anwendung nur unter drei Auflagen – das (erste?) CETA-Urteil des BVerfG vom 13.10.2016.
Statement Campact, foodwatch und Mehr Demokratie
(Karlsruhe, 13. Oktober 2016) Das Bundesverfassungsgericht hat heute über die Eilanträge von Campact, foodwatch und Mehr Demokratie gegen die vorläufige Anwendung des geplanten Handelsabkommens CETA zwischen der EU und Kanada entschieden. Die drei Organisationen reagieren darauf mit ersten Bewertungen:
„Das Urteil ist eine Ohrfeige für die Bundesregierung. Es ist ein großer Erfolg und eine große Ermutigung für über 125.000 Bürgerinnen und Bürger, die sich mit uns an dieser Verfassungsbeschwerde beteiligt haben. Nun müssen wir weiter Druck machen, damit CETA nicht ratifiziert wird. Wir werden die deutschen Europaabgeordneten auffordern, CETA abzulehnen. Aber auch die Grünen in Landesregierungen stehen beim Bürger in der Pflicht, CETA im Bundesrat zu stoppen.“
Thilo Bode, Geschäftsführer der Verbraucherorganisation foodwatch: „Es ist ein Riesenerfolg, dass das Bundesverfassungsgericht unsere Bedenken in einem Hauptsacheverfahren prüfen will – schließlich haben weder die Bundesregierung noch die Europäische Kommission die Argumente bisher ernstgenommen. Das ist ein Schlag ins Kontor von Sigmar Gabriel und Angela Merkel, deren Versuch, ein Hauptsacheverfahren zu verhindern, grandios gescheitert ist. Wir mussten bis zum Höchsten Gericht gehen, damit endlich über die massiven Gefahren von CETA für unsere Demokratie diskutiert wird. Das Gericht winkt die vorläufige Anwendung nicht einfach durch, sondern formuliert strenge Auflagen – das zeigt, dass die Bundesregierung die Folgen des Abkommens für die Demokratie allzu sehr auf die leichte Schulter genommen hat. Fazit: Wir haben nicht alles gewonnen, aber vieles. Unser Kampf gegen dieses verfehlte Abkommen geht weiter!“
Roman Huber, Geschäftsführender Vorstand von Mehr Demokratie: „Wir haben in diesem Eilverfahren wichtige Erfolge: Unsere Argumente wurden gehört, sie werden im Hauptverfahren ausführlich verhandelt werden, und die Bundesregierung muss sicherstellen, dass Deutschland die vorläufige Anwendung aus eigener Kraft wieder aufkündigen kann. Die Ausschüsse müssen jetzt demokratisch legitimiert werden und es dürfen weniger Teile von CETA vorläufig in Kraft gesetzt werden als geplant. Wir haben mehr Demokratie erreicht. Nach dem Verlauf der Anhörung ist es wahrscheinlicher denn je, dass CETA gegen das Grundgesetz verstößt.“
- Fragen und Antworten zur Verfassungsbeschwerde: www.tinyurl.com/faq-ceta-bverfg
Pressekontakte:
Campact: Jörg Haas, haas@campact.de
Mehr Demokratie: Anne Dänner, presse@mehr-demokratie.de, 0178/816 30 17; Ansprechpartnerin für Organisatorisches vor Ort: Nicola Quarz, 0157/72389352
foodwatch: Martin Rücker, presse@foodwatch.de, 0174/3751689
Statement Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland
Zur heutigen Ceta-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sagte Ernst-Christoph Stolper, Handelsexperte beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND):
„Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist trotz Ablehnung der Eilanträge eine Ohrfeige für die EU-Kommission. Das Gericht hat der Bundesregierung klare Hausaufgaben aufgegeben, die auch Forderungen der Stop-Ceta-Bewegung enthalten. Es darf keine vorläufige Anwendung für Ceta-Teile geben, die in der Zuständigkeit Deutschlands liegen, dazu gehören die Sonderklagerechte für internationale Konzerne. Und es muss sichergestellt sein, dass eine vorläufige Anwendung auch einseitig von Deutschland zurückgenommen werden kann. Außerdem sollen die Entscheidungen des Gemeinsamen Ceta-Ausschusses unter den Vorbehalt einer einstimmigen Zustimmung der Mitgliedstaaten gestellt werden. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bedeutet, das Schicksal von Ceta ist weiter offen. Das Abkommen muss außer der Unterzeichnung im EU-Handelsministerrat auch die Ratifizierung im EU-Parlament und in allen Mitgliedstaaten sowie die endgültige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes bestehen. Wir sind sicher, Ceta wird, so wie es vorliegt, nicht in Kraft treten.“
Pressekontakt: Ernst-Christoph Stolper, BUND-Handelsexperte, Mobil: 0172-2903751 bzw. BUND-Handelsexpertin Maja Volland, 030-27586-568, E-Mail: maja.volland@bund.net bzw. Rüdiger Rosenthal, BUND-Pressesprecher, Tel. 030-27586-425, E-Mail: presse@bund.net, www.bund.net
Statement Deutscher Kulturrat
Deutscher Kulturrat: CETA: Kultur muss jetzt bei vorläufiger Anwendung ausgenommen werden. Bundesregierung werden durch Bundesverfassungsgericht Fesseln bei CETA-Zustimmung angelegt. 13.10.2016.
KMU gegen TTIP
Kommentar „KMU gegen TTIP“ zum CETA-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (pdf). 13.10.2016.
Martina Römmelt-Fella, Geschäftsführerin Fella Maschinenbau GmbH, Mitinitiatorin „KMU gegen TTIP“: „Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist eine schlechte Nachricht für den deutschen Mittelstand. CETA bedeutet unfaire Privilegien für ausländische Investoren und setzt ausgerechnet verantwortungsvolle Unternehmer*innen verstärkt unter Druck.“
Dr. Katharina Reuter, Geschäftsführerin UnternehmensGrün e.V., Beirat „KMU gegen TTIP“: „Auch wenn das endgültige Urteil des Verfassungsgerichts über CETA noch aussteht: Karlsruhe sendet ein fatales Signal an unsere europäischen Nachbarn. Dort gibt Länder, die den Prozess sehr genau verfolgen und ihre Entscheidung im Rat auch von seinem Ausgang abhängig machen werden.“ (pdf)
Mehr Demokratie e.V.
Mehr Demokratie e.V.: CETA-Urteil aus Karlsruhe: Das hat unsere Bürgerklage schon jetzt erreicht… 13.10.2016.
Reaktion Parteien
Kläger Klaus Ernst (DIE LINKE) bei #Correctiv über die verlorene CETA-Klage vor dem Verfassungsgericht. 13.10.2016.
Pressemitteilung der Bundestagsfraktion Bündnis 90 / Die Grünen: CETA: Die Quittung für unsaubere Arbeit. 13.10.2016.
Pressemitteilung der Piratenpartei: Karlsruhe legt CETA-Abkommen an die Leine, doch stoppen müssen es die Bürger! 13.10.2016.
DIE LINKE im Europaparlament: CETA-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: „Gabriel auf die Verbindlichkeit seiner Äußerungen verpflichten“. 13.10.2016.
Presseberichterstattung:
Tagesschau: Kommentar zum CETA-Urteil „Solange“ – Karlsruhes Lieblingswort. 13.10.2016.
Tagesschau
Tagesthemen
WDR: CETA-Klägerin: „Das Urteil ist einfach super“. 13.10.2016.
MDR: Bundesverfassungsgericht gibt grünes Licht für CETA. 13.10.2016.
MDR: Thüringer Koalition in Ceta-Frage gespalten. 13.10.2016.
Deutschlandfunk: Urteil zum Freihandelsabkommen. Gericht gibt Auflagen für CETA-Zustimmung. 13.10.2016.
FAZ: Bundesverfassungsgericht lehnt Eilanträge gegen Ceta ab. 13.10.2016.
FAZ: Karlsruher Notbremse. 13.10.2016.
ZEIT ONLINE: Karlsruhe weist Eilanträge gegen Ceta ab. 13.10.2016.
FAZ: Die Glaubwürdigkeit entscheidet. 13.10.2016.
SZ: Ceta-Klägerin: „Das ist mindestens ein 70-Prozent-Sieg„. 13.10.2016.
SZ: Die Richter sollen das mal genauer prüfen. 13.10.2016.
Spiegel: Karlsruhes knallharte Bedingungen für Ceta. 13.10.2016.
Freitag: Noch ist nichts entschieden. 13.10.2016.
Der Tagesspiegel: Das Urteil ist nicht das letzte Wort. 13.10.2016.
RP: Ceta-Urteil des Verfassungsgerichts. Vorsicht, Herr Gabriel! 13.10.2016.
correct!v: Verfassungsgericht will demokratischeres CETA. 13.10.2016.
Deutsche Welle: Ceta-Urteil ist Demokratie-Unterricht. 13.10.2016.
SHZ: Ceta vorläufig anzuwenden, findet Robert Habeck „politisch falsch“. 13.10.2016.
Neue Westfälische (Bielefeld): Jura-Professor Fisahn, Rechtsvertreter der CETA-Gegner, fühlt sich nach dem Karlsruher Richterspruch als Sieger. 13.10.2016.
CETA vor dem Bundesverfassungsgericht.
Entscheidung am 13. Oktober
23.09.2016
Mündliche Verhandlung über die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in Sachen „CETA“ am Mittwoch, 12. Oktober 2016, 10.00 Uhr
Pressemitteilung Nr. 67/2016 vom 23. September 2016
Aktenzeichen: 2 BvR 1368/16, 2 BvR 1444/16, 2 BvR 1823/16, 2 BvR 1482/16, 2 BvE 3/16
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts verhandelt am
Mittwoch, 12. Oktober 2016, 10.00 Uhr,
im Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts, Schlossbezirk 3, 76131 Karlsruhe
über mehrere Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG.
Diese Anträge sind gegen eine Zustimmung der Bundesregierung zu Beschlussvorlagen in Sachen Comprehensive Economic and Trade Agreement (CETA) gerichtet, über die der Rat der Europäischen Union Ende Oktober 2016 entscheiden möchte.
Der Zweite Senat wird im Anschluss an die mündliche Verhandlung beraten und strebt an, am Donnerstag, 13. Oktober 2016, 10.00 Uhr, im Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts, Schlossbezirk 3, 76131 Karlsruhe eine Entscheidung zu verkünden.
Zur Pressemitteilung
Zur Terminladung
Letzte Hoffnung Verfassungsklage?
Telepolis
09.04.2015
„Die Politik hat die verfassungsrechtliche Anstößigkeit von CETA und TTIP bisher ausgeblendet“
Von Rolf-Henning Hintze
Prof. Axel Flessner über die Freihandelsabkommen, die Möglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts und das Versagen der Politik.
Strittigster Punkt der beiden Handelsabkommen CETA und TTIP ist die darin vorgesehene Schiedsgerichtsbarkeit nach dem ISDS-Mechanismus. Trotz des an der SPD-Basis partiell spürbaren starken Widerstands rechnet Axel Flessner, emeritierter Rechtsprofessor der Berliner Humboldt Universität, damit, dass die SPD im Bundestag mehrheitlich für CETA stimmen wird. Er sieht in diesem Fall aber Chancen, dass das Bundesverfassungsgericht den Bundespräsidenten hindern könnte, das Zustimmungsgesetz zu unterzeichnen. Über 17.000 Bundesbürger unterstützen bislang eine Verfassungsklage*.
* Zur Verfassungsklage: Petition richtet sich an Bundesverfassungsgericht. Bürgerklage gegen CETA; Christian Rath: Beschwerde in Karlsruhe. Massenklage gegen Ceta geplant. In: taz, 23.3.2015.
Bereits Januar 2015 wurde ein Gutachten veröffentlicht, das zum Ergebnis kommt, dass private Schiedsgerichte gegen die Verfassung verstoßen:
Anfang des Jahres wurde im Report der Böckler-Stiftung ein Beitrag von Prof. Dr. Siegfried Broß, Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D., Richter am Bundesgerichtshof a.D., veröffentlicht:
Freihandelsabkommen, einige Anmerkungen zur Problematik der privaten Schiedsgerichtsbarkeit
- Der Einsatz von Schiedsgerichten bei Freihandelsabkommen wird zu Recht kritisch gesehen.
- Privates Schiedsgericht und Ausübung von Gerichtsbarkeit gegenüber Staaten bei Streitigkeiten, die aus Freihandelsabkommen erwachsen, schließen sich aus.
- Es bedeutet den Verlust von staatlicher Souveränität und Selbstachtung, sich einer Gerichtsbarkeit außerhalb der Staatenebene zu unterwerfen
- Eine Schiedsgerichtsbarkeit innerhalb eines Freihandels abkommen darf allenfalls als Staatsschiedsgericht organisiert werden.
- Die Zusammensetzung eines Staatsschiedsgerichts ist so zu gestalten, dass es sich um Vertreter der Vertragsstaaten mit Zustimmung der nationalen Parlamente handeln muss.
Anlässlich dieses Beitrags von Prof. Broß möchten wir noch auf folgende Zeitungsartikel hinweisen:
19.01.2015 Süddeutsche Zeitung
Verstoß gegen die Verfassung
Von Silvia Liebrich
Der Staatsrechtler Siegfried Broß hält in Verträgen wie TTIP und Ceta private Schiedsgerichte für unzulässig. Deren Veto hätte brisante Folgen.
18.01.2015 Süddeutsche Zeitung
Ex-Verfassungsrichter geißelt geplante TTIP-Schiedsgerichte
Von Silvia Liebrich
Verfassungsrechtler Siegfried Broß sieht in den privaten Schiedsgerichten der Freihandelsabkommen Ceta und TTIP einen Verstoß gegen deutsches Verfassungs- und EU-Recht sowie einen Systembruch des Völkerrechts.
19.01.2015 Spiegel
Ex-Verfassungsrichter hält Schiedsgerichte für rechtswidrig
Die privaten Schiedsgerichte in den Freihandelsabkommen CETA und TTIP verstoßen möglicherweise gegen Verfassungsrecht. Ein früherer Verfassungsrichter sieht in den entsprechenden Klauseln einem Zeitungsbericht zufolge einen Systembruch des Völkerrechts.
Kommunen kämpfen um ihre Selbstverwaltung
Süddeutsche Zeitung
15.12.014
Kommunen kämpfen um ihre Energieversorgung
von Heribert Prantl
Immer mehr Städte und Gemeinden machen die Privatisierung der Strom- und Gasversorgung rückgängig und steigen auch selbst in die Stromproduktion ein.
Dabei stoßen sie auf massive juristische Probleme. Kartellbehörden und Gerichte erachten den freien Wettbewerb für wichtiger als kommunale Selbstverwaltung.
Eine Stadt klagt nun in Karlsruhe – und führt damit einen Musterprozess.
Zum Artikel
Dazu auch die Umfrage von der Süddeutschen Zeitung:
Stromnetz in Bürgerhand: Was halten Sie vom Trend der Rekommunalisierung?
Fall Heiligenhafen: Selbst- oder Fremdbestimmung?
Lampertheimer Zeitung
06.06.2014
Selbst- oder Fremdbestimmung?
Ist Heiligenhafen überall? Die Kleinstadt in Ostholstein liegt direkt am Meer, was nicht jede Kommune für sich in Anspruch nehmen kann. Aber der 9 000-Seelen-Ort aus dem hohen Norden kämpft um dem Rückerwerb seines Stromnetzes. Vier Jahre dauert die Prozedur inzwischen, die Stadtwerke existieren bisher nur auf dem Papier. Joachim Gabriel, ehrenamtlicher Geschäftsführer, vermutet beim Energieriesen Eon eine Hinhaltetaktik. „Die Rekommunalisierung wird hintertrieben“, sagt der im Doku-Format „ZDFzoom“. Titel des Filmbeitrags: „Ungleiche Gegner. Wie Gemeinden um ihre Stromnetze kämpfen.“ Das 20-Minuten-Video wurde am Mittwochabend auch den Mitgliedern des Haupt- und Finanzausschusses (HuFA) gezeigt. Erster Stadtrat Jens Klingler hatte dafür geworben, denn „das Thema Stromkonzession wird uns bis zum Rest des Jahres beschäftigen.“
Vergabe an Veolia wird BEG*-intern als Fehler betrachtet
*BEG = Bayerische Eisenbahngesellschaft
TZ
05.06.2014
Von Veolia betriebene Bayerische Oberlandbahn: Fahrgäste laufen, Schaffner klettert unter Zug
Hausham – Ein gebrannter BOB-Zugpassagier fasst es so zusammen: „Das schlägt dem Fass den Boden aus.“ Am Montag blieb ein Zug auf freier Strecke liegen. Die Passagiere gingen zu Fuß nach Hause. Man meint, man hätte schon alle Chaos-Geschichten über die Bayerische Oberlandbahn (BOB) gehört – und dann wird trotzdem noch eine drauf gesetzt. Wie uns Fahrgast Josef M. berichtet, ist der Zug München-Schliersee (Abfahrt 17.27 Uhr) am Montag nach einer Betriebsstörung auf freier Strecke kurz vor der Haltestelle Hausham liegengeblieben. Die Störung sei ja nichts Ungewöhnliches, meint der Haushamer Pendler. Es sei vielmehr schon alltäglich, dass nichts weitergeht. […] Längst schon wird die Neuvergabe an den Betreiber Veolia im Dezember 2013 BEG-intern als Fehler betrachtet. Doch rückgängig gemacht werden kann die Entscheidung: Bei einer Kündigung des Vertrags mit der BOB würde sich die Frage stellen, welches Unternehmen einspringen könnte. Einfache Antwort: keines.
Kommentar Berliner Wassertisch:
Es erweist sich immer wieder, dass eine Privatisierung der kommunalen Infrastruktur den Bürgern und der Gesellschaft schadet!
Hier kann man noch einmal auf die Aussage des Bundesverfassungsrichter a.D. Professor Dr. Siegfried Broß verweisen:
„Der Staat höhlt auf diese Weise [durch Privatisierung] das Sozialstaatsprinzip aus, was ihm über Art. 79 Abs. 3 GG nicht einmal mit der für die Änderung des Grundgesetzes erforderlichen Mehrheit erlaubt wäre. Der ungeschmälerte Erhalt und Schutz der grundlegenden Strukturelemente setzt entsprechende bereichsspezifische Organisationsstrukturen zu deren Absicherung voraus. Das sind für das Sozialstaatsprinzip die staatlichen Krankenhäuser und auch Eisenbahn, Post und die Versorgung der Bevölkerung mit Energie und Wasser. […] Wenn man die Betrachtung nun unter dem Gesichtspunkt der Daseinsvorsorge weiter einengt, ergibt sich Folgendes: Das Bundesverfassungsgericht hat in BVerfGE 38, 258, S.270f. darauf hingewiesen, dass eine Entwicklung besteht, in deren Verlauf die öffentliche Hand in wachsendem Umfang im Bereich der Daseinsvorsorge Aufgaben übernehme, die unmittelbar oder mittelbar der persönlichen Lebensbewältigung des einzelnen Bürgers dienten. Der Staat handelt insoweit nicht als „Wohltäter“, der sich auch wieder zurückziehen könnte, sondern nimmt hier seine Verpflichtungen aus dem Sozialstaatsprinzip wahr. Das Bundesverfassungsgericht zählt in diesem Zusammenhang die Einrichtungen der Energie- und Wasserversorgung, des Nahverkehrs, der Abfallbeseitigung, der Krankenhäuser, Altenheime und Kindergärten wie auch sonstige Maßnahmen zum Ausbau der örtlichen „Infrastruktur“ im weiteren Sinne auf.“ (Broß 2014, 14ff.)
Letzte Rettung vor TTIP: Bundesverfassungsgericht
Mehr Demokratie e.V.
28.05.2014
TTIP und das deutsche Grundgesetz
Von Charlie Rutz
Prof. Dr. Axel Flessner legt in einem Aufsatz dar, weshalb der Widerstand gegen das Freihandelsabkommen TTIP auch auf die rechtliche Ebene, letztlich an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) getragen werden sollte.
[Kommentar Berliner Wassertisch: Von dem Vorschlag von Professor Flessner halten wir sehr viel! 🙂 ]